CONNECT - The Audience as artist
10 Fragen an den Komponisten Huang Ruo„connect – das Publikum als Künstler“ lautet der Titel des Projekts. Die Grenzen zwischen Interpret und Zuhörendem verschwimmen. Was bedeutet das für Ihre Rolle als Komponist? Was hat Sie an dem Projekt interessiert?
In unserer heutigen Welt dient fast alles, was wir tun, der besseren Verbindung und Kommunikation mit Leuten, und dazu gehört auch, Musik zu machen und zu kreieren. Eine unserer Hauptaufgaben und Funktionen als Komponisten ist es, die Gesellschaft weiterzubringen, indem wir mehr Leute mit unserer Tätigkeit in Verbindung bringen. Um die Grenzen zwischen Künstlern und Zuhörern zu überwinden, müssen wir die gewöhnlichen Formate aufbrechen, wo die Bühne auf einer Seite und das Publikum auf der anderen Seite ist. Das unwiderstehlichste und attraktivste Element des Projekts war für mich das Schlüsselwort »connect«, also Verbindung. Die Musik selbst ist eine Verbindung von Klang und Stille in Raum und Zeit. Musik ist die Verbindung zwischen Komponist und Interpreten, zwischen Künstlern und Publikum, zwischen Menschen und dem Raum, in dem sie leben und atmen.
Arbeiten Sie während des Kompositionsprozesses mit den vier Ensembles zusammen? Wenn ja, wie?
Ich habe von Anfang an mit all den Ensembles eng via Skype und Email zusammengearbeitet, von der Konzeption bis zur Realisation. Mein Stück, ›The Sonic Great Wall‹ (›Die akustische Chinesische Mauer‹), besteht aus verschiedenen getrennten Mini-Bühnen mit 2-3 Musikern, die durch »Pfade« verbunden werden. Nachdem eine Bühne ihr Spiel beendet, spielt einer der Musiker von dieser Bühne weiter und geht dabei langsam auf die nächste Bühne zu, wo er zu den Kollegen stößt und dann mit ihnen das nächste Segment aufführt. Dieser Prozess setzt sich für alle Wege und Bühnen fort.
Neben dem Austausch mit den Ensembles steht vor allem die Kommunikation und Interaktion mit dem Publikum im Vordergrund. In welcher Weise wird das Publikum in Ihrem Werk in das Konzertgeschehen eingebunden?
In einem offenen Raum werden einige Publikumsmitglieder an zwei Seiten neben den »Pfaden« (»der Mauer«) platziert, die die Mini-Bühnen (»die Wachtürme«) verbinden. Während die Musiker beim Herumlaufen Klänge erzeugen, soll das Publikum Geräusche erzeugen durch Summen, Atmen und Flüstern; dadurch verkörpern sie die Geister, die die große Mauer bewachen. Sie können auch leise die Gedichte vorlesen, die im Voraus ausgewählt und im Programmheft abgedruckt wurden. Die Gedichte sollten sich mit dem Tod, dem Leben, der Liebe, der Erde, dem Feuer, dem Wasser, dem Licht, der Verbindung und mit der Stille befassen. Das restliche Publikum kann während der Vorstellung sitzen, stehen oder frei herumlaufen und dabei zum Beispiel den Solomusikern von einer Mini-Bühne zur nächsten folgen.
Wie erfolgt die “Vorbereitung” des Publikums?
Erwachsene, Jugendliche und Kinder sind alle eingeladen, am Vorbereitungsworkshop teilzunehmen. Während dieses Workshops entwerfen die Teilnehmer ihre Vorstellungen der Pläne von den Mini-Bühnen und Pfaden, die sie mit Formen, Linien und Farben aufmalen. Die Teilnehmer können auch ihre bevorzugten Gedichte einreichen. Nachdem die Mini-Bühnen aufgebaut sind, werden die Teilnehmer eingeladen, die ›Sonic Great Wall‹ mithilfe von stationären und beweglichen Klängen im Raum auszuprobieren. Sie können die Rolle des Publikums oder der Interpreten einnehmen, indem sie mit diversem Schlagzeug experimentieren. Vor dem Konzert selbst bekommt jedes Publikumsmitglied schriftliche Hinweise sowie die Gedichte im Programmheft. Ein Ensemblemitglied wird ferner dem Publikum vor der Vorstellung die Anweisungen erläutern.
Wie groß ist der Gestaltungsspielraum des Publikums? Wie ist das Verhältnis von festgelegten und durch das Publikum beeinflussbaren Elementen?
Neben dem Entwurf der Mini-Bühnen und Pfade und der Auswahl der Gedichte im Vorfeld werden Interpreten und Publikum während der Vorstellung durch unterschiedliche Lautstärken weiter interagieren. Wenn eine Mini-Bühne weniger Leute anzieht, soll die Musik dort in einer lauteren Dynamik gespielt werden; wenn mehr und mehr Publikumsmitglieder sich nähern, soll die Musik leiser werden. Diese Interaktion wird auch analog durch das Lichtdesign (Lichtfarbe und - intensität) jeder Mini-Bühne erreicht. Desweiteren kann das Publikum Kommentare und Bilder in Echtzeit via Twitter, Facebook, Wechat, Whatsapp, Instagram und Tumblr etc. posten. ›The Sonic Great Wall‹ kann so durch die sozialen Medien mehr Leute erreichen und vernetzen.
Wie gehen Sie mit dem Faktor des Ungewissen – der Unberechenbarkeit des Publikums – in Ihrer Komposition um?
Jeder Unsicherheitsfaktor ist Teil des Prozesses und des Werks. Da ›The Sonic Great Wall‹ eine sehr flexible Plattform für die Publikumspartizipation bietet, wird jede Aufführung anders sein; darin liegt die Schönheit des Stücks. Das Stück wurde für ein Publikum jeglicher Nation und Kultur geschrieben, Menschen mit oder ohne musikalischen Hintergrund. Unterschiedliche Leute werden auf sehr unterschiedliche Art auf das Stück reagieren ...
Was wäre, wenn das Publikum die Interaktion verweigern würde?
Die Schönheit des Werks liegt darin, dass das Publikum sich aussuchen kann, ob es aktiv oder interaktiv teilnehmen will. In jedem Fall kann man das Stück auch nur beobachten und erleben und so eine andere Perspektive gewinnen. Auch als Beobachter ist das Publikum bereits Teil des Panoramas.
Ihr Stück wird in kurzer Folge in vier europäischen Städten aufgeführt. Vermuten Sie, dass das Publikum aufgrund unterschiedlicher kultureller Herkunft und Hörerfahrungen auch unterschiedlich agiert und reagiert?
Ja, sicherlich! Das Publikum in unterschiedlichen Ländern und Kulturen wird höchstwahrscheinlich z.B. unterschiedliche Gedichte auswählen und sie in seiner eigenen Sprache flüstern. Dies wird uns sehr verschiedene Klangerlebnisse der ›Sonic Great Wall‹ bescheren.
Welche Erwartungen haben Sie an die Aufführungen? Unterscheiden sich Ihre Erwartungen von denen bei einem herkömmlichen Konzert?
Die Erwartungen und Erfahrungen bei ›The Sonic Great Wall‹ werden ganz anders sein als bei einem herkömmlichen Konzert: Niemand wird dem Publikum verbieten, zu flüstern, zu summen, sich zu bewegen oder herumzulaufen, sein Handy zu benutzen, um Fotos zu machen oder Nachrichten zu verschicken. Das Publikum wird zum Teil der Aufführung; es komplettiert geradezu das Stück. Andererseits werden die Interpreten selbst zum Publikum, da sie das Publikum beobachten und mit ihm interagieren werden.
Wie wichtig sind bei diesem Projekt die Neuen Medien?
Neue Medien werden während der Aufführungen vom Publikum verwendet, um weitere Menschen zu erreichen und sich mit ihnen zu verbinden. Eine ultimative Version von ›The Sonic Great Wall‹ könnte so aussehen, dass alle vier Ensembles simultan beteiligt sind. In diesem Szenario werden alle Ensembles an ihrem eigenen Ort und ihrer Spielstätte spielen und via Livestream auf große Bildschirme übertragen, so dass Ensembles und Publikum an jedem Ort die anderen drei Aufführungen in Echtzeit sehen und hören können. Dabei wechseln sich die Ensembles ab, so dass ›The Sonic Great Wall‹ via Livestream in den sozialen Medien international im Kreis herumgereicht wird – wie ein »akustischer Staffellauf«.