Revolution ist heißer als Theater

Liu Sola im Gespräch

Susanne Laurentius: Deine Oper Fantasy of the Red Queen basiert auf Motiven aus dem Leben Jiang Qings, Mao Tse-tungs vierter Ehefrau und Mitglied der so genannten Viererbande. Ihre Person ist in der westlichen Welt nicht wirklich im Bewusstsein der Menschen. Und ich selber habe den Begriff »Rote Königin« zuerst mit Lewis Carolls Alice hinter den Spiegeln in Verbindung gebracht, wo der Schriftsteller mit Spiegelungen, Gegensätzen, Zeitverläufen spielt...

LIU Sola: Das ist interessant! Ich habe nicht an diese Figur gedacht, aber die rote Königin in der Oper ist die Figur, die aufgefächert, projiziert, gespiegelt wird - sowohl musikalisch als auch auf der Bühne bzw. im Video. Der Name »Rote Königin« kommt aus den USA, wo Jiang Qing in einer Biographie diese Bezeichnung erhielt. Rot natürlich als die Farbe des Kommunismus. Und ihre Position ist die einer Königin, der ersten Frau. Das Wort »Fantasy« habe ich gewählt, damit die alte Frau nicht sofort als Jiang Qing identifiziert wird. Die Geschichte bezieht sich nicht nur auf sie, sondern ist auch eine Phantasie über verschiedene Frauen. Die alte Frau ist von dem Gedanken besessen, Jiang Qing zu sein. Aber wir wissen nicht, ob sie wirklich verrückt ist. So könnten viele Frauen denken, die sich wünschen Jiang Qing, also die Nummer 1 sein. Und die Krankenschwester lebt zwar in unserer heutigen Zeit, aber auch sie möchte Erfolg und Einzigartigkeit und ist bereit, dafür jeden Preis zu zahlen.

SL: Jiang Qing war von Mittelmäßigkeit gezeichnet: Als Schauspielerin war sie nie sonderlich begabt, sie war nicht sehr intelligent, aber getrieben von einem ungeheuren Machtwillen, den sie nutzte, um zu etwas Besonderem aufzusteigen. Wenn die Figur der alten Frau als ein Stereotyp gelesen werden kann, geht es dann auch allgemein um die Stellung der Frau in China?

LS: Das hat viel mit der traditionellen Erziehung in China zu tun: Eine Frau kann z.B. in der Regel nicht das Fach studieren, das sie sich wählt. Und allgemein gilt bis heute: Entweder du bist die beste oder du bist nichts. Darum benutzen Frauen Männer, um ganz nach oben zu kommen, da sie sonst ganz unten blieben. Zwischen diesen beiden Polen ist die Geschichte der Roten Königin angesiedelt, nicht nur die der alten Frau, sondern auch der Krankenschwester. Das findet man vielleicht allgemein in den Ländern, wo Frauen durch einen Mangel an Ausbildung nur einen Weg haben, eine höhere Position zu erreichen: wenn nicht durch Bildung, dann durch Männer.

SL: Dafür war Jiang Qing sicherlich ein Beispiel. Sie stellt für mich aber auch die Geschichte der Widersprüche der Kulturrevolution dar. Ich denke da nur an die Peking-Oper, die ja durchaus eine Volkskunst war. Jiang Qing wirkt für ihre Zeit durchaus emanzipiert mit einem revolutionären Geist. Mao hat wie ein fremder Eroberer die Tradition seines eigenen Landes abgeschnitten. Doch für die Zerstörung der Kultur steht sie.

LS: Das stimmt. Mao hatte schon vor 1949, also vor der Gründung der Republik, systematisch darauf hingearbeitet, die Kultur so zu manipulieren, dass sie die Interessen der Partei ausdrückt. Das Ziel dieser Propagandapolitik war - wie überall in totalitären Systemen -, alles Selbstdenken in einem Menschenkopf zu vernichten. Es gibt keine verschiedenen Möglichkeiten, keine kulturelle Vielfalt, sondern nur eins. Vor der Kulturrevolution hatte sich die Kultur noch einen Teil seiner Vielfältigkeit bewahren können, da Mao den berühmten Artikel geschrieben hatte: »In der Kultur sollen 100 Blumen blühen«. Während der Kulturrevolution wurde Jiang Qing für die Kultur zuständig und sie schaffte diese 100 Blumen ab. Das ist eine weibliche Mentalität. Sie konnte noch absoluter sein als ein Mann, besonders da sie sich minderwertig fühlte. Wie die Bewegungen in der Musterpekingoper ist fortan alles ganz genau festgelegt.

SL: Die Rollen in der Oper sind mit Ausnahme von der alten Frau alle durch einen klaren Stil charakterisiert: die Krankenschwester durch chinesischen Pop, der Teufel wird von einem Peking-Oper-Bariton verkörpert, nur die alte Frau hat viele Facetten.

LS: Die Musik von Jiang Qing kennt alle musikalischen Facetten: Peking-Oper, Pop, westliche Oper, sie ist breit gefächert. Ich schrieb ihre Musik in der Erinnerung an eine wilde, hysterische, verzerrte aber auch sensible Person. Ich habe viele ihrer Reden angehört, sie hatte eine sehr hohe Stimme, sie redete laut und voller Selbstbewusstsein. Aber in der Schlussszene, vor ihrem Tod - sie hatte ja in der Haft mehrere Selbstmordversuche unternommen - erhält die Musik plötzlich einen dunklen Ton. Und vor diesem schweren Hintergrund des Orchesters kommt eine zarte pekingoperartige Frauenstimme hinein.

SL: Claude Debussy sagte einmal: Im 20. Jahrhundert ist der Teufel nicht die Verkörperung des Bösen, sondern des Widerspruchs.

LS: Daher ist das Stück eine Tragödie der Frauen. Nur eine Frau, die nichts anderes kennt als ihren Ehrgeiz, die nicht weiß, was sie will, kann dieses Chaos schaffen. Mao Tse-tung und Kang Sheng wussten, was sie wollten, sie spielten mit der Politik, der Herrschaft und beseitigten ihre Feinde. Das alles fehlte Jiang Qing, sie hatte nur dieses Verlangen nach höchster Aufmerksamkeit. Sie war eine Figur auf dem Schachbrett der beiden. Diese Rolle konnte sie niemals ablegen. Sie war als Frau einem Mann untergeordnet, obwohl sie von diesem jahrelang kalt gestellt wurde, aber in dem Moment, als Mao sagte: Ich brauche dich nun für die Kultur, folgte sie ihm wie eine Blinde. Kurz vor ihrem Tod wurde ihr sogar das Recht, sich Maos Frau zu nennen, aberkannt. Dieses Recht wollte sie unbedingt wieder bekommen. Für ihre Stellung hat sie alles getan, ohne es zu hinterfragen. Sie hat in der Kulturrevolution viele Verbrechen begangen, aber darüber hat sie nie nachgedacht und diese auch nie bereut. Egal welche Position sie erreicht hat - sie war immer nur ein Instrument, ein Beiwerk.

SL: Warum wird sie heute noch mehr verteufelt als Mao?

LS: Die Menschen hassen sie, eben weil sie eine Frau ist, aber ein anderer wichtiger Grund ist: Sie ist Mao nicht von Anfang an gefolgt. Sie war nicht wirklich an der Gründung der Volksrepublik und ihren »Idealen« beteiligt, sondern ist erst später und einzig durch ihre weibliche Verführungskunst in ihre Position gekommen ist. Und dass sie von Mao so schlecht behandelt wurde, wissen viele.

SL: Du sprachst Kang Sheng an, der ein frühes und vor allem sehr einflussreiches Mitglied der Partei war und in der Kulturrevolution sozusagen als Drahtzieher im Hintergrund eine wichtige Rolle spielte. Er tritt in der Oper als Teufel auf. Ich hätte mit dem Teufel Mao assoziiert und nicht Kang Sheng.

LS: Im dritten Akt will das junge Mädchen die Aufmerksamkeit des Führers erlangen, weiß jedoch nicht wie sie das anstellen soll. Da kommt der Teufel und sagt: Du kannst doch singen, hast du das vergessen? Also kann der Teufel nicht Mao sein.

SL: Weil es die biographische Parallele gibt - das ist ein Detail, das wohl kaum jemandem bekannt ist. Sie kannte Kang Sheng schon als junges Mädchen, da ihre Mutter wahrscheinlich in seiner Familie angestellt war. Hier ist der Teufel mit einem Peking-Oper-Bariton positiv besetzt. Bedeutet das, er war der gute alte Mann für Jiang Qing?

LS: Sie wurde immer von ihm geschützt. Sie zog die Aufmerksamkeit Maos als Operndarstellerin auf sich und Kang Sheng hat dazu getrommelt. Nein, für die Chinesen war Kang Sheng ein guter Intellektueller. Als er starb, war die Kulturrevolution noch nicht zu Ende. Deswegen waren seine Verbrechen lange unbekannt, erst viel später kamen sie durch Rückblenden und Erzählungen ans Licht. Er ist eine Person, die sich zu verstecken verstand. Es war Kang Shengs Idee, dass man mit der Kultur die eigenen Feinde vernichten kann. Das stammt weniger von Mao. Kang Sheng hat viele Intellektuelle umgebracht, aber was er im Kulturbereich bewahrt hat ist: Gu Qin, die siebensaitige Zither, mit der die Oper gleichsam beginnt. Er ist ein großer Mörder, aber er traut sich nicht, das älteste chinesische Instrument, eben die Gu Qin, die er mag, abzuschaffen. Jiang Qing hat nicht den Bildungsstand wie Kang Sheng und als sie Führerin dieser Bewegung wurde, will sie alles kontrollieren. Auch wenn hinter allen Verbrechen Kang Sheng stand: Weil er die Gu Qin geschützt hat und ein guter Kaligraph war, denken viele Chinesen, er sei ein weiser, guter Intellektueller gewesen.

SL: Es gibt gleich zu Beginn noch ein anderes Bild, das Du erklären müsstest. Der Koch bereitet Schweinefett, Glutamat und Pilze zu. Das wirkt erstmal wie das Klischee vom Chinaimbiss bei uns - dahinter steckt aber etwas anderes.

LS: Das ist eine Anspielung auf ein »Luxusgefängnis«. Das verstehen auch viele Chinesen nicht, aber ich bin in der politischen Elite aufgewachsen. Hier saß mein Vater und später auch Jiang Qing ein. Er erzählte mir, dass die Bediensteten sich nicht an die Anordnungen von oben hielten, die z.B. besagten, dass die Inhaftierten eine ausgewogene Ernährung erhalten sollten. Die Dialoge in der Oper sind so, als ob ich sie schon einmal gehört hätte. Wenn etwa die Krankenschwester singt, fragt die Alte Frau: Was ist das für eine Musik, wie kommt die hierher? So etwas habe ich erlebt, als ich meine Eltern in ein Kurhaus begleitete, wo viele alte Kader nach der Kulturrevolution ihre Kur machten. Ich war sehr bunt gekleidet und habe Sätze gehört wie: Woher kommt die? Was ist das für eine, wie kommt die hier rein? Diese Dialoge sind durch die vielen Jahre, die ich in diesem Parteikreis gelebt habe in meinem Kopf.

SL: Du hast in einem Interview einmal gesagt: »Als ich Blues lernte, erinnerte ich mich plötzlich an meine eigene Kultur, an das Geschichten-Erzählen. Als ich zurückging, um unsere Geschichten zu singen, fühlte ich mich plötzlich viel freier in der eigenen Musik. Ich habe also den Spirit des Blues benutzt, um chinesische Erzähl-Musik zu schaffen«. Haben sich auch die Stoffe deiner Erzählungen und Romane verändert?

LS: Durch die Distanz sehe ich Jiang Qing als eine tragische Figur. Diese Einschätzung habe ich durch mein Leben im Ausland gewonnen, ansonsten hätte ich Jiang Qing nur gehasst und als Feindin meiner Eltern betrachtet. In den USA habe ich ihre Geschichte gelesen: über ihre Jugend, wie sie aus der Provinz nach Shanghai kam. In New York habe ich viele Menschen gesehen, die alle Mittel einsetzen müssen, um zu überleben. Die Skandale und Männergeschichten, die ihr damals genutzt hatten, um Aufmerksamkeit zu erhalten, findet man heute auch. New York ist ein Treffpunkt für viele arme Künstler, die darauf warten, dass ein goldener Apfel vom Himmel fällt, aber keiner fragt nach, was dieser Apfel ist. Jiang Qings Geschichte ist fast 100 Jahre her, dann kann man sich vorstellen, was da passieren konnte.

SL: In Deinen Partituren finden sich immer Formen, Umrisse, die Du hörst. Bei Fantasy of the Red Queen sind es Kreuze und Ketten aus Kreuzen. Hier ist das Kreuz ein besonderes Symbol. Ich assoziiere im Wissen um die Thematik sofort das Zeichen für China. Welche Bedeutung hat das für dich?

LS: Magischer Realismus ... diese Art von Stimmung ... Das ist schwierig zu erklären - so wie in die Tragödie am Ende plötzlich diese schöne Melodie einbricht. Ich war unter einer magisch-realistischen Stimmung. Im vierten Akt, wenn Jiang Qing zur Führerin der Kulturrevolution wird, beginnt für Chinesen eine ganz schreckliche Zeit, in der vielen Menschen getötet werden, da kamen plötzlich diese Kreuze in meinen Kopf.

SL: Wie ein Opferzeichen? Das ist in China aber kein gängiges Symbol?

LS: Ich bin viel gereist und in meinem Kopf sind viele Symbole, deshalb bin ich nicht auf einen Code beschränkt. Zudem ist der Kommunismus in China ja ein europäisches Erbe, das von Marx und Engels. Es stellt das Opfer einer ganzen Generation dar - nicht nur die guten auch die bösen, alle wurden geopfert. Auch Jiang Qing selber wurde durch die Revolution geopfert, das Land, alle, daher die Reihe von Kreuzen. Ein einzelnes bleibt ein Kreuz, viele zusammen bilden einen Zaun.

SL: Der Pianist Liang Heping spielt im »Revulotionsstil«. Was ist das?

LS: Das ist natürlich improvisierte Revolutions-Romantik.

SL: Wie kann ich mir das vorstellen - Rachmaninov?

LS: Ja, man findet keinen deutschen Pianisten, der in diesem Stil improvisiert, das ist in Hepings Blut! Rachmaninov ist in seinem Blut. Ein Stil, vor dem man im Westen so eine Angst hat. Aber wir in China sind so aufgewachsen - das hat man uns beigebracht. Selbst wenn Heping Jazz improvisiert, kommt manchmal ganz natürlich so etwas wie Rachmaninov aus ihm heraus. Er ist ein fantastischer Jazz-Pianist, aber diesen Teil seines Lebens kann er nicht auslöschen. So denkt er. Deshalb habe ich ihn ausgesucht - für Jazz. Und diesmal soll er keinen Jazz spielen, sondern diesen Revolutionsstil.

SL: Das meint die Zeit...

LS: ... die letzten hundert Jahre in China. Da änderte sich die Musikästhetik, die Einflüsse. Zum Beispiel wurde alle Musik, die zu uns kam, in gesund und ungesund eingeteilt. Das Erziehungssystem urteilte, was gesunde und was ungesunde Musik war. Also löschten wir ungesunde Musik - nach Debussy, Schönberg ist alles ungesund. Bach, Beethoven und Mozart sind gesund, Rachmaninov und Tschaikowsky auch - dieser Strang wurde als revolutionär gesund angesehen. Das basiert auf dem sowjetischen Musikerziehungssystem. So wurden Musiker von klein auf erzogen. In der Oper gibt es aber nur einen Hauch davon. Was denken Westler von Rachmaninov?

SL: Sehr bürgerlich - eigentlich nichts für Kommunisten.

LS: Schlechter Geschmack, nicht wahr? Aber wenn Du in China über Rachmaninov sprichst, dann denken alle, dass du intellektuell und musikalisch hochgebildet bist. Das lässt das Herz überlaufen - so viele Noten, so viel Gefühl! Während der Kulturrevolution wurde natürlich auch das verboten. Das einzige was blieb war Propagandamusik: Revolutionstanz und -oper. Ich wollte nie über die Kulturrevolution sprechen - ich mochte nicht lamentieren wie viele verfolgte Intellektuelle, wie schrecklich sie und ihre Familie gelitten haben. Ich hasse diese Sentimentalität und Weinerlichkeit. Was passiert ist, ist passiert und kann nicht geändert werden.

SL: Mich hat wirklich gewundert, wie Mao heutzutage in China vermarktet wird, die Winkeuhren, Maobibeln und -poster, und das nicht nur für Touristen.

LS: Dafür gibt es vielleicht verschiedene Antworten. Eine ist sicherlich, dass es in China das feudalistische System sehr stark ausgeprägt ist und dass der Herrscher der Wichtigste im Land ist - das ist immer noch so. Alle mögen einen ganz starken Herrscher, der regiert. Diese Gesellschaft ist keine Gesellschaft für Individuen, für die Förderung der Individualität. Nach der Kulturrevolution setze eine Phase ein, in der die Menschen sich Gedanken machten darüber, was Mao falsch gemacht und wie er Menschen Leid zugefügt hat. Ein Schriftsteller entnahm der Maobibel ein Zitat, das ich sehr gut finde, es lautet: »Nur das Volk kann Geschichte schaffen.« Ohne das Volk hätte Mao keine Chance gehabt. Und im jetzigen China gibt es eine Art Nostalgie für die alten Zeiten unter Mao, da die Gesellschaft offener ist, stärker individualisiert, pluralistisch. Die Menschen müssen sich selbst zeigen. Durch ihre Erziehung sind sie daran nicht gewöhnt. Deswegen gibt es viele, die versuchen, sich an die alten Muster zu klammern, da sie sich einen alten Wert bewahren können, wo in der sich wandelnden Gesellschaft noch kein neuer gefunden wurde.

Ensemble Modern