Weitergabe und Teilhabe: Damit neue Musik lebendig bleibt
Stefan Fricke im Gespräch mit Paul Cannon und Dietmar WiesnerDie Internationale Ensemble Modern Akademie e.V. (IEMA) wurde 2003 gegründet, um die vielfältigen aktuellen Strömungen der Musik und einen offenen, kreativen Umgang mit künstlerischen Prozessen zu vermitteln. Sie bietet verschiedene Programme wie Education-Projekte, Meisterkurse für Instrumentalist*innen und Formate für Komponierende. Zentral und in seiner Konzeption einmalig ist der Masterstudiengang für zeitgenössische Musik, der seit 2006 in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) durchgeführt wird. Bereits 2003 auf Initiative der Kunststiftung NRW als einjähriges Stipendienprogramm initiiert, wird bis heute jeder Studienplatz mit einem Stipendium, aktuell durch Mittel der Kunststiftung NRW, GVL – Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten, Crespo Foundation und KfW Stiftung ausgestattet. Stefan Fricke sprach für diese Magazinausgabe mit Flötist Dietmar Wiesner und Kontrabassist Paul Cannon über den Studiengang.
Stefan Fricke: Dietmar, mit welchem Stück hast du dein Studium beendet?
Dietmar Wiesner: Ich habe für mein Examen an der Detmolder Musikhochschule mehrere Stücke gespielt, etwa von André Jolivet und Jean Françaix. Aber ein wirklich modernes Stück war nicht darunter.
SF: Paul, und du?
Paul Cannon: Ich habe an der Rice University in Houston, Texas, studiert – mit einem anderen System als in Deutschland, ohne Abschlussexamen. Ich studierte nicht explizit zeitgenössische Musik, aber ich habe mir einige moderne Stücke erarbeitet. Das erste war ›Valentine‹ von Jacob Druckman am Ende meines Bachelors, und das war vielleicht der Impuls für meine Erkundungen in der zeitgenössischen Musik.
SF: Wie wichtig ist ein Masterstudiengang Zeitgenössische Musik heute?
PC: Er ist wichtig für einen bestimmten Typus von Musiker*innen, die mehr möchten als das, was eine Hochschule bieten kann. Sie brauchen praktische Erfahrungen in einem intensiven Umfeld, das sich ganz auf die Musik des 20./21. Jahrhunderts konzentriert. An den meisten Hochschulen gibt es dafür kaum Gelegenheiten. Bei uns ist ein Ort, an dem man dies auf einem sehr hohen Niveau tun kann.
DW: Wobei es durchaus an einigen Hochschulen mittlerweile Standard ist, dass solche Stücke wie das Flötensolo ›Cassandra’s Dream Song‹ von Brian Ferneyhough unterrichtet werden. Was es aber bisher kaum gibt, ist die Disziplin »Kultur des Ensemblespiels«. So gesehen ist unser Masterstudiengang ein Highlight in der Hochschullandschaft; die Art, Dauer und Intensität unseres einjährigen Studiengangs sind schon sehr außergewöhnlich.
SF: Seit 2006 wird der Masterstudiengang in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt durchgeführt, sodass die Stipendiat*innen auch ein akademisches Abschlusszeugnis erhalten.
DW: Einen Master, aber nicht für Solospiel, sondern für Ensemblespiel.
SF: Wie sieht der Unterricht aus? Sicher geht es um die verschiedensten Facetten neuer Musik, mit all den Anforderungen an die Interpret*innen, was ja längst weit mehr ist als »bloß« die halsbrecherischen neuen Spieltechniken zu beherrschen, sondern auch Sprechen, Schauspielern, Tanzen.
PC: Ich würde sagen: Learning by Doing. Manchmal nenne ich den Studiengang die »Erfahrungsfabrik«. Man wird mit einer sehr großen Menge an Musik, sehr unterschiedlichen Stilen und sehr disparaten Herausforderungen konfrontiert, was auch unsere Arbeit im Ensemble widerspiegelt. So erleben die Studierenden ein Jahr Ensemble Modern-Arbeit und nähern sich unserem Tempo an. Innerhalb eines Jahres lernen sie als IEMA-Ensemble etwa 80 anspruchsvolle Stücke kennen, die sie teils auch auf internationalen Festivals präsentieren. Und wir als Ensemble Modern sind hier, um ihnen die besten Methoden für den Umgang mit verschiedenen Situationen zu zeigen.
DW: Das IEMA-Ensemble spielt ja nicht nur in Frankfurt, sondern beispielsweise auch bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik, dem Lucerne Festival oder dank der Ulysses Platform beim Gaudeamus Festival in Utrecht und Impuls in Graz. Die dortige Präsenz ist sehr gut fürs Netzwerken, was bei uns auch geübt wird. Ergänzend möchte ich noch sagen: Alle Stipendiat*innen können bei jedem Ensemble Modern-Mitglied individuellen Unterricht haben: Flöte bei Posaune oder Schlagzeug, Cello bei Klavier usw.
PC: Wir ermutigen sie geradezu, bei möglichst vielen Mitgliedern des Ensembles Unterricht zu nehmen, um sehr viele Sichtweisen kennenzulernen.
SF: Wie stelle ich mir den Ensemble-Unterricht vor? Ist immer jemand dabei, der die Gruppe anleitet oder machen sie das unter sich?
DW: Beides. Wir geben unsere basisdemokratische Ensemble Modern-Idee weiter. Sie sollen lernen, untereinander klarzukommen, sich zu einigen und ihre Vorstellungen auszutarieren. Viele Proben werden aber auch gecoacht, möglichst von unterschiedlichen Ensemble Modern-Mitgliedern. Tatsächlich berücksichtigen wir immer auch Stücke, die sich außerhalb des Gewohnten bewegen, so dass auch Formen der Improvisation oder der Choreografie geübt werden, wo man vielleicht ganz andere Talente bei sich selbst entdeckt oder entdecken muss.
SF: Eine der Besonderheiten des IEMA-Masterstudiengangs ist die Position der Klangregie, die natürlich auch in den Bereich der Interpretation gehört, aber kaum irgendwo gelehrt wird.
DW: Das ist wirklich ein Novum in der Musiklandschaft.
PC: Die Klangregie-Studierenden haben innerhalb des Ensembles eine wichtige Funktion. Sie machen die gleiche künstlerische Arbeit wie alle anderen der Gruppe, aber sie machen auch eine Menge organisatorischer Dinge, die die Musiker*innen nicht sehen – wie beispielsweise den Technikaufbau.
SF: Mit jeder Elektronik, ob Audio und/oder Video, wächst der Aufwand.
DW: Ja. Und das diesbezügliche Repertoire wächst stetig.
SF: Die zweite Besonderheit des Masterstudiengangs ist, dass immer ein*e Komponist*in Teil der Gruppe ist, manchmal sogar zwei.
DW: Es ist extrem wichtig, dass die Komponierenden über ein ganzes Jahr mit im IEMA-Ensemble sind, damit sie die Musik auch mal von der anderen Seite aus erleben. Nicht immer aus der Perspektive des Schreibens, sondern auch aus der des Mitmachens. Wir versuchen, sie gerade bei den freieren Stücken auch zu integrieren.
SF: Was haben die Interpret*innen von der Anwesenheit der Komponierenden?
DW: Sie erleben im Austausch, wie Komponierende über Musik nachdenken und Musik wahrnehmen. Das ist bei ihnen ja oft ganz anders motiviert als bei den Spieler*innen.
PC: Übrigens schreibt jede*r Komponist*in innerhalb des Studienjahres zwei Stücke für das IEMA-Ensemble. Und dafür ist es natürlich sehr sinnvoll, die Arbeit eines Ensembles von innen heraus zu kennen.
DW: Die Komponierenden können so viele Tryouts mit den einzelnen Kolleg*innen machen, wie sie wollen. Die können zu zweit, dritt oder viert miteinander arbeiten. Auch bekommen sie wenigstens eine, manchmal auch zwei große Ensembleproben für ein Tryout, um Dinge in der Gruppe auszuprobieren, was an den Hochschulen meistens leider nicht möglich ist.
SF: Musikvermittlung ist auch ein Modul des Studiengangs?
DW: Education machen die Stipendiat*innen auch und gehen in die Schulen; pro Jahr machen sie mindestens ein Projekt. Paul war daran maßgeblich beteiligt, dieses Modul gemeinsam mit der Hochschule zu entwickeln.
PC: Education ist ein wichtiger Aspekt im Masterstudiengang. Die Studierenden werden auch in allgemeineren Präsentationsmethoden geschult, etwa wie man ein Stück mündlich vorstellt. In unseren Werkstattkonzerten müssen alle Spieler*innen wenigstens einmal so sympathisch wie kenntnisreich vor dem Publikum über ihre Stücke sprechen.
DW: Kürzlich hatten wir in der Akademie Besuch von Schüler*innen. Einer unserer derzeitigen IEMA-Dirigenten hat das Stück ›…fließend…‹ von Georg Friedrich Haas mit dem IEMA-Ensemble geprobt, das davon handelt, dass ein Accelerando immer wieder neu aufgebaut wird. Er hat das den Schüler*innen so gut erklärt, dass sie sich getraut haben, das auch selbst mal zu dirigieren. Das war für alle eine sehr schöne Erfahrung.
SF: Wisst ihr, welche Wege die mittlerweile gut 300 Absolvent*innen des IEMA-Masterstudiengangs eingeschlagen haben?
PC: Sie sind in ganz verschiedenen Bereichen tätig. Manche haben feste Stellen in einem Orchester, einige wurden Professor*innen, andere spielen in anderen Ensembles für zeitgenössische Musik, etwa im Klangforum Wien, im Ensemble Recherche oder im Ensemble hand werk.
DW: … oder haben eigene Ensembles gegründet, zum Beispiel MAM.manufaktur für aktuelle Musik, Broken Frames Syndicate, Fabrik Quartet und Trio Catch, das sich als erste Formation aus dem Stipendiat*innenkreis gebildet hat.
SF: Und welche Komponist*innen gehören zu den Alumni der IEMA?
PC: Zum Beispiel Brigitta Muntendorf, Vito Žuraj, Dave Fennessy, Elnaz Seyedi, Martin Grütter, Diego Ramos Rodríguez, Vassos Nicolaou, Ying Wang, Marko Nikodijević. Die Mehrheit der Alumni ist freiberuflich tätig. Sehr viel von dem, wofür diese Akademie ausbildet, ist für die Arbeit in der freien Szene gedacht. Ich glaube, dass es für die Stipendiat*innen eine Art Gütesiegel ist, die IEMA besucht zu haben.
SF: Dank der IEMA-Engagements sind, einige wurden eben genannt, etliche weitere Ensembles für neue Musik entstanden: Ist das keine Konkurrenz?
PC: Eigentlich nicht. Ich finde das sogar sehr positiv. Selbst wenn das Ensemble Modern jeden Tag ein anderes Konzert spielen würde, wäre das nicht genug. Wir brauchen mehr Ensembles, die diese Musik auf hohem Niveau präsentieren, damit sie lebendig bleibt. Es gibt so viele großartige Komponist*innen. Wir können gar nicht alle präsentieren. Wir können auch nicht überall auf einmal sein. Für mich ist das kein Wettbewerb, sondern tatsächlich eine Bereicherung.
DW: Das empfinde ich auch so. Die meisten Ensembles, die sich aus der Akademie heraus gegründet haben, wählen ganz andere programmatische Ansätze und gehen so andere Wege, dass wir uns nicht in die Quere kommen.
PC: Wir laden die Alumni auch als Gastmusiker*innen ein.
SF: Wie haben sich im Laufe der Jahre die Studierenden verändert?
PC: Ich bin seit 2014 beim Ensemble Modern und konnte in den letzten Jahren schon eine große Veränderung bemerken. Anfangs stellten sie nicht so viele Fragen zur Realität des Marktes. Ich glaube, dass sie heute viel besser informiert sind und ihnen bewusster ist, was auf sie zukommt, wenn sie die Akademie abgeschlossen haben. Sie denken heute strategischer.
DW: Sie informieren sich auch viel breiter, die IEMA ist nicht die einzige Quelle. Ein weiterer großer Unterschied ist, dass viele der Musiker*innen immer »kompletter« werden: Sie haben die Musik von Klassik bis Moderne komplett auf dem Schirm, weil das auch mehr vom Markt verlangt wird. Die Leute, die zu uns kommen, sind jetzt nicht mehr nur unbedingt Spezialist*innen für zeitgenössische Musik oder wollen das werden. Sie wollen sich mit ihrem ganzen Können einfach extrem breit aufstellen.
SF: Wohin könnte es mit diesem Masterstudiengang gehen?
DW: Der nächste Schritt könnte sein, dass nicht nur die IEMA, sondern das ganze Haus ein Ort der Vermittlung und der Ausbildung ist, dass das Haus noch mehr zu einer Begegnungsstätte wird – für Kurse, für Veranstaltungen jeglicher Art, im Zusammenspiel aller Institutionen, also Ensemble Modern, IEMA und Junge Deutsche Philharmonie.
SF: Geht es etwas konkreter?
DW: Nehmen wir beispielsweise die IEMA-Werkstattkonzerte. Ich fände es klasse, wenn sie nicht intern blieben, sondern daraus eine öffentliche Veranstaltung werden könnte. Ein weiterer Wunschgedanke ist, dass Probenbesuche von Schulklassen oder von Kindergärten viel selbstverständlicher werden, dass es einen regen Austausch zwischen diesem Haus und anderen Institutionen gibt. Wir hatten neulich einen Workshop, bei dem Winrich Hopp, künstlerischer Leiter vom Berliner Musikfest und musica viva des Bayerischen Rundfunks, in seinem Impulsvortrag etwas sehr Schönes sagte: Wir als eingebundene Fachmenschen haben das Privileg, Partituren von z.B. Pierre Boulez Tausende Male zu hören und so unglaublich intensiv erfahren zu können. Das Publikum hat dieses Privileg normalerweise nicht; an ihr oder ihm rauscht ein Stück einmal vorbei und er oder sie muss sich irgendwie davon ein Bild machen. Wir müssen den Leuten mehr Chancen geben, in diese Welten einzutauchen, ihnen Musik in unterschiedlichsten Formaten präsentieren: etwa in einer lockeren Probensituation, wo sie vielleicht mal neben dem oder der Dirigentin stehen können, vielleicht sogar mal einen ganz kleinen Ausschnitt selbst dirigieren usw. Und dann gibt es das Format des Halbkonzerts oder des Halbgesprächs, wie wir sie ja schon seit langem in den ›Happy New Ears‹-Konzerten haben. Das müsste man ausarbeiten und noch intensivieren.
PC: Gut gesagt.
SF: Neue Musik auch als Teilhabe.
DW: Ja, als wirklich organischer Bestandteil des Lebens. Und in Zeiten, in denen zum Beispiel Musikunterricht zunehmend gekürzt wird, kann es in dieser Sache nur bei solchen Organisationen weitergehen wie der Unsrigen.