Jungbleibender sein
Helmut Lachenmann im Gespräch mit Michael RebhahnAnlässlich seines 90. Geburtstags am 27. November 2025 widmet das Ensemble Modern dem Komponisten Helmut Lachenmann mehrere Konzerte in Berlin (3. September), Köln (19. November), Frankfurt am Main (26. November) und Hamburg (29. November). Im Zentrum des Programms steht mit ›Concertini‹ ein großformatiges Werk, das eng mit dem Ensemble verbunden ist und exemplarisch für die jahrzehntelange, fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Lachenmann und dem Ensemble Modern steht. Als klanglicher Kontrapunkt erklingt ›Graffiti‹ von Unsuk Chin. Das Ensemble Modern formt zusammen mit dem IEMA-Ensemble 2024/25 einen generationenübergreifenden Klangkörper, dessen musikalische Leitung Sylvain Cambreling innehat. Am 2. Dezember steht Helmut Lachenmann zudem im Zentrum eines ›Happy New Ears‹-Konzerts in der Oper Frankfurt, bei dem sein ›Mouvement (– vor der Erstarrung)‹ zur Aufführung kommt.
Michael Rebhahn: Wann hast du zum ersten Mal Kenntnis davon bekommen, dass es da eine neue, junge Formation namens Ensemble Modern gibt?
Helmut Lachenmann: Oh, das liegt in weiter Ferne – das dürfte 1981 oder 1982 gewesen sein. Ich meine, der Dirigent und Schlagzeuger Bernhard Wulff hätte Kontakt mit mir aufgenommen. Keine Ahnung, was er bzw. die Ensemblemusiker von meiner Musik kannten. Vielleicht mein ›Intérieur I‹ für einen Schlagzeuger, seit seiner Uraufführung 1967 in Darmstadt mit einem genial gestaltenden Christoph Caskel? Vielleicht auch mein Schlagzeug-Konzert ›AIR‹, bei seiner Uraufführung 1969 in Frankfurt grausam gestört, vom Dirigenten Lukas Foss abgebrochen und von vorne wiederholt? Auf jeden Fall ging es bei dieser ersten Begegnung mit dem mir völlig fremden Ensemble Modern um eine Tournee nach Südamerika: nach Uruguay, Argentinien und Chile.
Ich habe vor dieser Tournee keine Aufführungen des Ensemble Modern gehört und entsinne mich vage eines in Buenos Aires gespielten Werks von Friedhelm Döhl. Vor allem aber erinnere ich mich, nach dem zuvor immer wieder erlebten beziehungsweise ertragenen Widerstand überforderter Orchestermusiker hierzulande (nicht nur bei meiner Musik!), an die Sorgfalt der Ensemblemitglieder beim Ausprobieren der notierten Klänge. Ich erlebte sie respektvoll, anregend, auch freundschaftlich beratend und – übrigens wie mich selbst – ebenso lern- wie abenteuerbereit.
Auch der Umgang mit den Stücken, die ihnen von den oft unerfahrenen, sicher auch einsam experimentierenden argentinischen und chilenischen Komponisten anvertraut wurden, war von dieser Sorgfalt geprägt. Bei mir ging es um mein ›temA‹ für Flöte, Stimme und Cello mit Dietmar Wiesner, Monika Moldenhauer und Sabine Pfeiffer – sozusagen um ein nach Südamerika versetztes, aber immer noch abenteuerliches Heimspiel.
MR: Deine Kompositionen sind, meiner Meinung nach, ausgesprochen musikeraffin – zumal mit Blick auf die Nuanciertheit der Aktionen am Instrument. Woher kamen dennoch die Vorbehalte?
HL: Tja, »affin« für welche Musiker? Musiker, vor allem Orchestermusiker, waren lange Zeit weithin geprägt von der instrumentalen Praxis, die ihnen in ihrer Ausbildung mit Blick auf die ihnen vertraute und von ihnen geliebte Musik vermittelt wurde. Die »Vorbehalte«, sanft ausgedrückt, resultierten bei fast allen Orchestern vor allem aus der Abneigung gegen spieltechnische Zumutungen, auf die man bei der gewohnten Instrumentalausbildung nicht vorbereitet war.
Etwa die Vorschrift bei den Streichern, den Bogen mit der Faust hinter dem Steg auf die Saitenumspinnung und nirgendwo anders in präzis vorgeschriebenem Rhythmus aufzupressen, ohne den musikalischen Sinn zu erkennen; oder ein absolut tonloses und trotzdem intensives Streichgeräusch auf der Ober- oder Vorderfläche des Stegs zu produzieren; oder genau vorgeschriebene Tonhöhen als Tupfer mit der Bogenstange zu erzeugen bei zugleich mit aufgelegter Griffhand erstickten Saiten; bei Blechbläsern und Klarinetten wiederum tonloses Zischen und Pusten mit deutlicher Abstufung zwischen hell und dunkel, gar mit umgekehrt aufgesetztem Mundstück.
Derlei rhythmisch präzise auszuführen und musikalisch zu gestalten: Das waren für manche Ausführende Zumutungen, mit denen sie sich aus ihren lieb gewordenen Gewohnheiten herausgerissen sahen. Sie fühlten sich über- und in ihrem professionellen Stolz zugleich unterfordert. Und sie hatten keine Lust, sich als mehr oder weniger ungeschickt Lernende gar noch blamieren zu müssen und sich »missbraucht« zu fühlen im Hinblick auf spieltechnische Aufgaben, die nichts mit ihrem Musikbegriff zu tun hatten. Sie erlebten das – und in manchen Orchestern erlebt man es noch heute – als entwürdigende Störung und kränkenden Einbruch in ihre philharmonisch geadelte Geborgenheit.
Seltsamerweise waren aber oft schon im Stimmzimmer oder bei heiterem Zusammensein solche Berührungsängste wieder vergessen. Aber ich nähere mich den Neunzigern – diese Zeiten sind so gut wie vorbei. Übrigens: Bei Kammermusikern und gar beim Ensemble Modern gab es solche Probleme nie. Die fanden sich dafür dann ab und zu im entsetzten Publikum!
MR: Einige deiner zentralen Stücke (›Mouvement‹, ›Concertini‹, ›Schwankungen am Rand‹, ›Ausklang‹, ›NUN‹, ›Zwei Gefühle‹) waren wichtige Wegmarken in der Geschichte des Ensemble Modern. Hat das Ensemble Modern im Reigen der Neue-Musik-Ensembles einen besonderen Zugang zu deiner Musik? Eine Art »Lachenmann-Sensus«?
HL: Da bin ich überfragt. Ich glaube nicht. Es gab ja auch grausame Werke anderer. Das Ensemble Modern schreckte vor nichts zurück, vermittelte vielmehr über seine professionell praktizierte Sorgfalt auch bei wie auch immer Ungewohntem noch dessen eigenartige Schönheit. Mein ›Mouvement‹ war vielleicht die erste wirklich nach allen Richtungen spieltechnische, ästhetische Herausforderung, mit der sie zu tun hatten –oder eine der ersten, ich lasse mich sofort korrigieren!
Dabei empfand ich ausgerechnet dieses Stück, bei aller Liebe, als einen Rückfall ins allzu vertraut Musikantische und wollte es eigentlich zurückziehen. Dann allerdings hätte ich auch die Uraufführung beim Ensemble intercontemporain, dem Auftraggeber, absagen müssen. Also war ich nett zu mir, und gab dem Stück und mir noch eine Chance, habe ein Auge zugedrückt und mich damit wieder angefreundet.
MR: Wie wichtig sind Musiker als – loyale – Weggefährten von Komponierenden? Was macht einen »wahren, schönen und guten« Musiker aus?
HL: Intelligenz, respekt- und verantwortungsvolle, vielleicht auch kritische Neugier, ein sensibles, auch selbstkritisches Ohr, Abenteuerbereitschaft, Mitdenken, nicht nur im spiel- und notationstechnischen, sondern auch im expressiv-ästhetischen Sinn, Geduld und Beharrungsvermögen mit der Umgebung und mit sich selbst. All dieses in ungeordneter Reihenfolge – und vielleicht meine ich immer das Gleiche.
MR: Gab es Musiker, die ganz konkret Anteil an der Entwicklung deiner kompositorischen Ästhetik hatten?
HL: Ja, die gab es. Ich verdanke ihnen die Öffnung meines kompositionstechnischen Horizontes – und da ich als Komponist nicht stehen bleibe, gibt es immer wieder neue. Aber wenn ich die nenne, die mir einfallen, enttäusche ich jene, deren Nennung ich vergesse.
MR: Du hast das Ensemble Modern einmal »Vorreiter eines intelligenten Musikertums« genannt. Worin besteht musikalische Intelligenz?
HL: Es gab und gibt in anderer Umgebung sicher auch andere Vorreiter. Zu den bereits genannten Qualitäten, die sich letztlich aus jeder musikalischen Intelligenz ergeben, gehört bei Ensemblemusikern auch die Lust, gründlich in die Partitur zu schauen und sich dabei die immer wieder andere Präzisierung des Musikbegriffs bewusst zu machen.
MR: Lässt sich das Spielen einer Partitur vom Wissen um ihre ästhetischen Implikationen trennen?
HL: Das wird sich nicht vermeiden lassen. Aber ich bin sicher, dass schon die allerersten Konzerte des Ensemble Modern zugleich immer auch Lernprozesse für die Ausführenden bedeuteten. Sie mussten – und vielleicht müssen sie immer noch? – den nicht ganz unsuspekten Begriff des »engagierten Musizierens« immer wieder neu praktizieren lernen, um vom bloßen lähmenden Buchstabieren wegzukommen.
MR: Wie hat sich die Aufführungspraxis neuer Musik in den letzten Jahrzehnten verändert? Stumpft mit ihrer Verselbstverständlichung womöglich auch ihr »Stachel« ab?
HL: Stachel? Das klingt zu pathetisch! Ich kenne keine Stachel, so wenig bei John Cage wie bei Karlheinz Stockhausen. Allerdings: In einer zusehends geistig verflachenden Zivilisation könnte die Vermittlung von Kunst schlechthin zum befreienden oder aufrüttelnden Stachel werden. Aber wehe, wenn man sich von solchen Spekulationen inspirieren lässt. Goethe sagt: »Man merkt die Absicht und man wird verstimmt.« Inszenierte Provokation ist lächerliches Entertainment, Dienstleistung für den Spießer. – Pardon: auch für die Spießerin. Wer sich ernstlich gepiesackt fühlt, sollte versuchen, sich darüber zu freuen, dass die Nerven noch reagieren, und die Einladung annehmen, sich zu öffnen.
MR: 2003 hat das Ensemble Modern die Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) ins Leben gerufen. Du warst mehrfach an Seminaren dieser Institution beteiligt und hast einmal gesagt, dass »wer hier einmal war, [...] nachher ein anderer Mensch geworden« sei. Ist dir das Konzept der Akademie besonders nahe?
HL: Ja, da habe ich den Mund ganz schön voll genommen. Wo immer ich meinen Erfahrungshorizont erweitert kriege, werde ich ein anderer. Ein verbindliches und wo auch immer artikuliertes Konzept kenne ich nicht. Aber ich gehe davon aus, dass dasjenige der IEMA hinausläuft – übrigens im doppelten Sinn – auf die Weckung und Ermunterung jeglicher Form von verantwortungsbewusster Neugier als Musikliebender im ästhetischen und zugleich rein praktisch als ausführender Musiker im instrumentaltechnischen Bereich.
Es sollte darum gehen, sich als zeitlebens Lernender zu akzeptieren und dadurch Jungbleibender zu sein; musikalisches Wirken zu genießen, andere neugierig zu machen auf den immer anders artikulierbaren Musikbegriff, was uns auf den Reichtum der in uns noch zu entdeckenden Antennen aufmerksam macht.
MR: Im November wirst du 90 Jahre alt, hast also die Historie der neuen Musik von der jungen Nachkriegsavantgarde bis in die Jetztzeit »in vivo« mitvollzogen. Womit ist ein Komponist mit einem derart immensen Horizont gegenwärtig beschäftigt? Was bekümmert ihn, was lässt ihn hoffen?
HL: Ich kann nicht für andere Komponisten sprechen. Aber was hoffentlich nicht nur mich bekümmert, ist die weithin dominierende und offensichtlich unaufhaltsam fortschreitende und bedenkenlos geförderte geistige Verflachung und die wem auch immer willkommene, weil nützliche Verblödung unserer Zivilisation – nicht nur, aber eben auch im Kulturbereich. Ihr verdankt sich etwa auch die gegenwärtig drohende, gewissenlose und verhängnisvolle Abschaffung der unterschiedlichen Einstufung und Betreuung von U- und E-Musik durch die GEMA. So fragwürdig die Bezeichnungen »U« und »E« sein mögen, sie stehen für zwei unverzichtbare und gleichermaßen zu respektierende, aber grundverschiedene menschliche Bedürfnisse: geistvolle Unterhaltung hier, Erinnerung an unsere Geistfähigkeit und den daraus erwachsenden inneren Reichtum dort.
Und hoffen? Ich habe noch Freunde, die sich nicht das Denken austreiben lassen und den Terror der uns alle betäubenden Desinformation und Verblödung durchschauen. Nicht nur in Bezug auf die Kunst denke ich an Wilhelm Buschs bedrohten Vogel:
»Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
und weil mich doch der Kater frisst,
so will ich keine Zeit verlieren,
will noch ein wenig quinquilieren
und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, — — «