»Am Ort des Entstehens«

Zum Abschied von Michael Maria Kasper nach insgesamt 33 Jahren Ensemble Modern: ein Gespräch mit Michael Rebhahn

Michael Rebhahn: Erinnerst du dich noch an deinen »Erstkontakt« mit dem Ensemble Modern?

Michael Maria Kasper: Ja, das war bei einem Projekt mit der Jungen Deutschen Philharmonie: ›Le Sacre du printemps‹ von Strawinsky und Brahms’ ›Erstes Klavierkonzert‹ — David Atherton hat dirigiert und Bruno Leonardo Gelber war der So­list. Und da stand bei einer Probe aus den Tiefen der zweiten Geigen Karsten Witt auf und verkündete, man wolle ein Ensemble für neue Musik gründen. Interessierte sollen sich melden!

MR: Und du hast dich natürlich gemeldet?

MMK: Nein, im Gegenteil. Ich hatte damals keinen besonderen Zugang zur neuen Musik. Ich habe sie nicht direkt abgelehnt, aber ich war skep­tisch. Und da blieb die Hand natür­lich ganz weit unten. Eine damalige Studienkollegin hatte dagegen Interesse, und sie war es auch, die später den Kontakt doch noch herstellte. 1981, bei der zweiten Arbeitsphase des Ensemble Modern, wurde für Luciano Berios ›Tempi Concertati‹ ein zweites Cello gesucht. Und da habe ich zugesagt.

MR: Weshalb dann doch?

MMK: Ich weiß es auch nicht so ganz genau. Irgendwie war ich interessiert an »sportlicher Betätigung«, also an Stücken, die mich vor Herausforde­rungen stellen würden und die ich bislang noch nicht kennengelernt hatte. Und das wurde dann auch eingelöst. Der Berio war super schwer — aber bis heute ist es eines meiner Lieblingsstücke geblieben.

MR: Der Funke war also übergesprungen?

MMK: Ja, das war einfach eine irrsin­nige Ausdruckserweiterung auf mei­nem Instrument, von der ich extrem profitiert habe, auch für die Interpre­tation klassischer Werke. Und ich habe ganz deutlich gespürt, dass ich an einem Ort bin, wo etwas entsteht.

MR: Aber dennoch hast du 1985 das EM verlassen und bist zum WDR-Sinfonieorchester nach Köln gewechselt. War dir das »klassische« Orchester dann doch näher?

MMK: Ganz ehrlich? Mir war das Geldverdienen näher. Ich fand schon, dass man, wenn man gut ist, auch gutes Geld verdienen sollte. Und das war bei einem Rundfunkorchester natürlich gegeben. Also habe ich das Probespiel gemacht und die Stelle bekommen. Das waren schon fantas­tische künstlerische Rahmenbedin­gungen: ein exzellentes Orchester mit einem wunderbaren Konzertsaal. Denn ein Jahr nach meinem Wechsel wurde die Kölner Philharmonie eröff­net. Gerne erinnere ich mich an die vielen Konzertreisen und speziell die Aufführungen aller Mahler-Sinfonien. Für mich beschreiben sie den Weg in eine musikalische Zukunft. Übrigens ist auch mein Faible für Japan auf diesen Reisen entstanden.

MR: Aber es hat etwas gefehlt, oder? Sonst säßest du ja jetzt nicht hier.

MMK: Sagen wir es so, ich habe während meiner 13 Orchesterjahre immer mal wieder als Gast beim Ensemble Modern gespielt und 1996 bin ich auf die USA-Tournee mit John Adams mitgefahren. Das waren tolle Erfahrungen und ich hatte wieder dieses »Am-Ort-des-Entstehens«- Gefühl. Und dann hat 1997 der damalige Cellist Mick Stirling aufge­hört, das EM ist auf mich zugegangen, und ich habe beim Orchester ein Sabbatical genommen.

MR: Und dann war dir irgendwann klar, dass es nicht dabei bleiben wird?

MMK: Ja. Aber ich weiß noch ganz genau, wie es sich anfühlte, als ich meine Kündigung an den WDR abge­schickt habe: Das war alles andere als einfach!

MR: Wie war es, nach dieser langen Pause wieder im Ensemble Modern zu sein? War es noch dasselbe En­semble? Was hatte sich verändert?

MMK: Was mir vor allem auffiel, war die Professionalisierung, die zwi­schenzeitlich Einzug gehalten hatte. In der Anfangszeit herrschte – man muss es so sagen – die reine Selbst­ausbeutung. Da hat man so lange geprobt, bis alles geklappt hat, und wenn es immer noch nicht rund lief, hat man sich nach der Probe noch mal zusammen drangesetzt. Das hatte sicher auch mit der Situation zu tun, in der das Ensemble damals war: Es gab eine gewisse Unbe­grenztheit in allen Dimensionen, auch eine Art Freiheit.

MR: Und heute sind die Grenzen enger?

MMK: Ja, aber das ist nicht per se etwas Negatives. Natürlich sind, nach einer Phase der Konsolidierung, die finanziellen Bedingungen heikler geworden, ebenso hat sich die ge­sellschaftliche Realität, mit der sich Musik und Kunst überhaupt kon­frontiert sieht, gewandelt. Dazu muss sich auch ein Ensemble für neue Musik verhalten.

MR: Um ein Gefühl dafür zu bekom­men, in welcher Zeit du zum EM zurückgekehrt bist. Was waren die ersten großen Projekte, die damals auf dem Plan standen?

MMK: Das waren vor allem die Pro­duktionen mit Heiner Goebbels im Bockenheimer Depot: ›Schwarz auf Weiß‹ und ›Eislermaterial‹. Das war etwas völlig Neues für mich, diese Musiktheaterarbeit, bei der ganz andere Formen von Verständnis, Ein­fühlungsvermögen und Zusammen­arbeit gefragt sind; auch eine andere Art der Probenarbeit, bei der ästheti­sche Entscheidungen erst während des Arbeitsprozesses getroffen wer­den. Dann gab es die Komposition ›Jagden und Formen‹, die Wolfgang Rihm dem Ensemble Modern auf den Leib geschrieben hatte. Und na­türlich Luigi Nonos ›Prometeo‹ in der Alten Oper Frankfurt im Jahr 2000.

MR: Drei Jahre später wurde dann unter deiner maßgeblichen Beteili­gung ein Projekt – oder besser eine Institution – aus der Taufe gehoben, die eine große Erfolgsgeschichte wurde: die Internationale Ensemble Modern Akademie.

MMK: Ja, das habe ich mit sehr viel Leidenschaft gemacht! Ich habe da einen großen Bedarf gespürt. Es geht eben beim Studium eines Instru­ments nicht nur um Fingersätze oder sonstige Hard Skills, sondern auch darum, ein Verständnis dafür zu ent­wickeln, welcher ästhetischer Mittel sich Komponistinnen und Komponis­ten über die Jahrhunderte bedient haben. Und das Nachvollziehen einer kompositorischen Idee ist natürlich bei neuer Musik besonders wichtig; da gibt es sehr viel weiterzugeben.

MR: Wenn du auf deine lange Zeit beim Ensemble Modern zurück­blickst, gibt es einen Moment, der dir in besonderem Maß in Erinne­rung geblieben ist?

MMK: Da gibt es viele, aber einer fällt mir spontan ein. Das war 1984 in Buenos Aires, auf unserer ersten Südamerika-Tournee. Damals war in Argentinien gerade die Militärdiktatur überwunden worden, aber die Verhältnisse waren noch deutlich spürbar instabil. In einem Konzert hatten wir Messiaens ›Quartett für das Ende der Zeit‹ gespielt. Viele Leute im Publikum hatten Aufnah­megeräte dabei und haben das Kon­zert mitgeschnitten. Und als wir aus dem Konzerthaus rauskamen, waren da etliche Menschen, die Kerzen angezündet hatten und sich die Aufnahme anhörten. Das war schon sehr ergreifend.

MR: Am Ende die obligatorische Frage: Welche Pläne hast du für die Zukunft?

MMK: Ich werde jetzt natürlich nicht mit dem Cellospielen aufhören. Es gibt noch viel Repertoire, mit dem ich mich beschäftigen könnte. Nur so viel: Ich habe mir kürzlich ein fünf­saitiges Barockcello gekauft und zum Geburtstag lag ein E-Bass auf dem Gabentisch.