HK GRUBER UND DAS ENSEMBLE MODERN

reisen mit Kurt Weills ›Die sieben Todsünden‹ in die USA

Sie gelten spätestens seit der auf CD und im Frankfurter Schauspielhaus Mitte der 1990er Jahre gefeierten ›Dreigroschenoper‹ als das ultimative Weill-Team – das Ensemble Modern und der österreichische Dirigent, Chansonnier und Komponist HK Gruber. Nun reisen sie gemeinsam mit der Sopranistin Wallis Giunta und dem A-cappella-Ensemble amarcord in die USA: Im Gepäck haben sie ein weiteres Kultstück von Kurt Weill, das vom Foxtrottund Tango-Drive aufgeladene Stück ›Die Sieben Todsünden‹, für das der Komponist Weill und der Autor Bertolt Brecht 1933 zum wiederholten Mal ein geniales Gespann bildeten. ›Die Sieben Todsünden‹ sind in einer neuen Fassung für Kammerensemble zu hören, die das Ensemble Modern 2019 beim Beethovenfest Bonn uraufgeführt hat. Für die Bearbeitung konnte Kim H. Kowalke, Präsident der New Yorker Kurt Weill Foundation for Music, seinen alten Freund HK (Nali) Gruber sowie den Komponisten Christian Muthspiel begeistern. Bei den Konzerten im April 2024 in der Carnegie Hall in New York, in Houston und zuvor in der Alten Oper Frankfurt stehen neben den ›Todsünden‹ Werke von Paul Hindemith, Erich Wolfgang Korngold und Arnold Schönberg auf dem Programm – und damit von drei Komponisten, die wie Weill aufgrund nationalsozialistischer Verfolgung in die USA emigrieren mussten. Guido Fischer sprach mit Kim H. Kowalke über dieses ›Weimar‹-Programm. Im Rahmen seiner USA-Reise gastiert das Ensemble Modern zudem mit einem weiteren Programm als Residence- Ensemble in der Carnegie Hall: Unter der Leitung von Stefan Asbury präsentiert es ein Programm, in dessen Mittelpunkt die kubanisch-amerikanische Komponistin Tania León steht, die in dieser Saison den Composer’s Chair der Carnegie Hall innehat. Neben Werken Leóns kommen die aberwitzigen ›Player Piano‹-Studies von Conlon Nancarrow in einer Kammermusikfassung sowie Werke von Andile Khumalo und Christopher Trapani zur Aufführung.

Guido Fischer: Eines der Werke ist Weills ›Sieben Todsünden‹ in der neuen, auf Ihre Initiative hin entstandenen Version. Was hat Sie motiviert, dieses Werk umarbeiten zu lassen?

Kim H. Kowalke: Dank ihrer genresprengenden, hybriden Natur faszinieren die meisten Weill’schen Bühnenwerke auch heute noch, doch ihre Produktion stellt für viele traditionelle Institutionen eine Herausforderung dar. Weill nannte die ›Sieben Todsünden‹ ein »ballet chanté«, also ein gesungenes Ballett. Es sind dafür mindestens ein komplett besetztes Kammerorchester, ein Männerquartett, zwei Annas – eine Sängerin und eine Tänzerin – und bei szenischen Aufführungen weitere Schauspieler* innen und Tänzer*innen nötig. Diese Anforderungen stellen ein Opernensemble vor bestimmte Probleme, ein Tanzensemble vor völlig andere und Produktionen an Schauspielhäusern vor noch ganz andere. Deshalb finden inzwischen mehr halbszenische Konzertaufführungen des Werkes statt als szenische und verwandeln das Ballett häufig in eine Art sinfonischen Liedzyklus. Also dachten wir darüber nach, eine neue Orchestrierung des Stücks für nur fünfzehn Interpret*innen in Auftrag zu geben, um den Theatern, Tanzensembles und Kammerensembles die Produktion des Stücks zu erleichtern. Weill selbst sagte einmal, ›Mahagonny‹ würde eine Instrumentierung für fünfzehn Interpret*innen gut zu Gesicht stehen. Vor fünfundzwanzig Jahren sprach ich sowohl Hans Werner Henze als auch Luciano Berio darauf an, doch sie lehnten mit dem Einwand ab, die gesanglichen Anforderungen würden ein Theater trotzdem überfordern; ihrer Meinung nach gehörte ›Mahagonny‹ auf die Opernbühne. Deshalb fragte ich meinen Freund HK Gruber, Nali, ob man denn seiner Meinung nach mit den ›Sünden‹ so verfahren könne und ob er selbst daran interessiert wäre, das Stück umzuinstrumentieren.

GF: Ist es Zufall, dass die Instrumentierung für fünfzehn Spieler*innen mit der von Schönbergs Kammersinfonie identisch ist?

KK: Nali und ich einigten uns im August 2015 im Zug von Salzburg nach Wien auf die fünfzehnstimmige Instrumentierung. Er hatte gerade das Ensemble Modern und eine Starbesetzung in einer konzertanten Aufführung der ›Dreigroschenoper‹ bei den Festspielen dirigiert – als »Kontrast « zu einer vierzigstimmigen Neuinstrumentierung von Martin Lowe für eine vollszenische Produktion in der Felsenreitschule, die schlecht ankam. Nali und ich hatten also noch die EM-Musiker*innen im Ohr, als wir uns die ›Sünden‹ für ein kleineres Ensemble vorstellten. Soweit ich mich erinnern kann, dachte dabei keiner von uns beiden daran, dass Schönbergs Kammersinfonie Nr. 1 für fünfzehn Interpret*innen geschrieben ist – wohl auch, weil ihre Instrumentierung eigentlich ganz anders ist als das, was wir für die ›Sünden‹ für nötig befunden hatten: Streichquintett, Flöte, zwei Klarinetten, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, Gitarre beziehungsweise Banjo, Klavier und Pauken – beziehungsweise Schlagzeug. Gruber gewann schließlich seinen Kollegen und Freund Christian Muthspiel dafür, an der neuen Version mitzuarbeiten, die das Ensemble im September 2019 in Bonn uraufführte. Ihre erste Aufführung in New York gibt das Ensemble im Rahmen des ›Weimar Festival‹ in der Carnegie Hall im kommenden April.

GF: Wie würden Sie den Charakter dieser Version – auch im Vergleich zum Original – beschreiben?

KK: Keiner von uns beiden wollte eine »Reduktion« von Weills Originalpartitur. Wir brauchten eine Neuinstrumentierung, die es schafft – nun allerdings mit virtuosen Solist*innen –, die charakteristischen Eigenschaften von Weills Klangwelt zu bewahren. Die neue Version ist wesentlich mehr zu einem »instrumentalen Paradestück « geworden als das Original, ohne dass jedoch auch nur eine Melodie, Gegenmelodie oder Harmonie verändert worden wäre. Sie ist kein »Arrangement«. Ich stelle mir immer vor, dass sie so ist, wie Weill sie selber für ein fünfzehnköpfiges Ensemble geschrieben hätte.

GF: Lässt sich beim Hören eventuell erkennen, dass diese Version aus dem 21. Jahrhundert ist – und wenn ja, woran? KK: Es ist vielleicht herauszuhören, aber nur bis zu einem gewissen Grad, denn es klingt noch erstaunlich nach dem Weill der 1920er bis 1930er Jahre. Die »Ökonomie« und »Transparenz« der Textur schaffen jedoch eine Anmutung »postmoderner« Ästhetik, wie man sie von einigen Stücken von John Adams, Steve Reich und natürlich von Grubers eigener Musik her kennt. Ich assoziiere es vor allem mit der Zeit nach ›Frankenstein!!‹ – Nalis viel gespieltes ›Pandämonium‹ aus den 1970er Jahren.

GF: Könnten Sie vielleicht kurz etwas zu Weills Verhältnis zu den drei anderen gespielten Komponisten – Arnold Schönberg, Erich Wolfgang Korngold und Paul Hindemith – sagen?

KK: Bevor Weill Ferruccio Busonis Kompositionsklasse in Berlin besuchte, wollte er eigentlich bei Schönberg in Wien studieren. Weill arbeitete damals gerade an seiner ›Sinfonie in einem Satz‹, die strukturell, harmonisch und ästhetisch einige Ähnlichkeit mit Schönbergs atonalen Kompositionen aufweist, vor allem mit dessen erster Kammersinfonie. Doch fehlte Weill das Geld, nach Wien umzusiedeln – was sicher letztlich das Beste war. Als nämlich Schönberg später einmal in seiner Meisterklasse in Berlin hörte, wie Marc Blitzstein Ausschnitte aus der ›Dreigroschenoper‹ spielte, bemerkte er: »Franz Lehár – ja, Kurt Weill – nein. Seine Musik ist diejenige auf der Welt, an der ich nicht die geringsten Qualitäten entdecken kann.« Es gibt heutzutage keine Belege mehr dafür, dass Weill Korngolds Musik kannte, bevor beide in den 1930er und 40er Jahren in Hollywood arbeiteten – Weill übrigens nur sporadisch und meist nicht ganz glücklich. Ihre Wege kreuzten sich dort gelegentlich im Zirkel der Reinhardts. Weill schilderte Lotte Lenya 1937, er sei nach einem Konzert von Otto Klemperer in Los Angeles hinter der Bühne gewesen und im Greenroom »dem gealterten Wunderkind Korngold « begegnet. Weills Verhältnis zu Hindemith war komplexer und mehr von Respekt geprägt. Hindemith war fünf Jahre älter – er war also Weill nach Kriegsende ein Stück voraus. In den 1920er Jahren lieferten sich beide Komponisten insbesondere mit ihren Kammermusik- und Konzertstücken einen spielerischen Wettlauf. Am Theater stellte Weill schnell Hindemiths erfolgreiche frühe expressionistische Operneinakter mit seinem eigenen ersten Einakter ›Der Protagonist‹ (1926) in den Schatten. Es folgte bekanntlich eine Serie von wegweisenden Kooperationen mit Brecht. Eine davon, die Radiokantate ›Der Lindberghflug‹ (1929), begann zunächst als eine gemeinsame Vertonung für Baden-Baden; Hindemith und Weill komponierten abwechselnd je einen Satz. Doch kam es nicht zu einem harmonischen Dreiklang: Hindemith zog seinen Beitrag zurück, und Weill vertonte anschließend den gesamten Brecht-Text allein. Ästhetisch dürften sich beide am engsten in den frühen 1920ern angenähert haben, als sie den Einfluss populärer amerikanischer Tanzidiome, den sogenannten »Jazz«, aufgriffen. Weills erster Kontakt mit einem internationalen Publikum war die Uraufführung seines Streichquartetts op. 8 während der Frankfurter ›Kammermusikwoche‹ im Juni 1923. Aufgeführt wurde es von Hindemiths Quartett. Auf dem Festival fand auch die deutsche Erstaufführung von ›L’histoire du soldat‹ statt, bei der Hindemith die Sologeige spielte und seine eigene Kammermusik Nr. 2 für Bläserquintett aufführte. Noch ganz ohne die Ironie, die sein weiterer Werdegang bald verlangen würde, kommentierte Weill gegenüber Busoni: »Ich fürchte, dass Hindemith schon etwas zu tief in das Land des Foxtrotts hineingetanzt ist.« Der Auslöser von Weills Kommentar könnte das ›Finale 1921‹ der Kammermusik Nr. 2 gewesen sein. Doch Hindemith verließ das besagte Land schnell wieder, wohingegen Weill sich dem »Amerikanismus« in der Musik als »denkbar zukunftsrelevanten internationalen Volksmusik« öffnete. Obwohl sich beide in den 1940ern in den USA geografisch relativ nahe waren, lässt sich kein erneuter Kontakt der beiden belegen. Tatsächlich war Darius Milhaud der einzige mit Weill befreundete europäische Komponist.

GF: Sie haben lange mit dem Ensemble Modern und HK Gruber zusammengearbeitet. Was zeichnet diese Musiker*innen ganz besonders aus, wenn sie Kurt Weill spielen?

KK: Ja, es sind inzwischen über dreißig Jahre. Nali und ich betrachten David Drew, den großen Weill-Experten, als unseren Mentor. David brachte uns in den 1980ern zusammen, und wir haben bei vielen Projekten zusammengearbeitet. Einige der wichtigsten realisierten wir mit dem Ensemble Modern, darunter Ersteinspielungen mehrerer Werke. Ich durfte mehrmals bei Nalis Proben mit dem Ensemble Modern dabei sein. Es hat etwas ganz Besonderes, wenn ein auf Neue Musik spezialisiertes Ensemble einem Komponisten und Dirigenten begegnet, der tief in der Musik von Weill und Hanns Eisler verwurzelt ist. Diese Kombination scheint das Avantgardistische dieser Musik neu zu erfinden, verleiht ihr durch Präzision und idiomatischen Vortrag dieselbe faszinierende Wirkung, welche die EM-Musiker*innen auch einem neuen Werk von Nali selbst verleihen würden. Ich schätze, einige Mitglieder des EM dachten anfangs: »Auf dem Papier sieht das aber nicht so schwierig aus.« Dann forderte Nali die Art von dramatischer und musikalischer Feinsinnigkeit, die man auch Weills Komponistenidol Mozart entgegenbringen muss. Im Laufe der Zeit hat sich das Ensemble zu einem beispielhaften Ensemble für Weill-Aufführungen entwickelt.

GF: Zum Schluss noch drei persönliche Fragen: Wann hat Sie Weills Musik zum ersten Mal gepackt – und welches Stück war es?

KK: Um es mit einem Song von Weill und Alan Jay Lerner zu sagen: »I remember it well« – ich erinnere mich gut daran: Es war im Frühjahr 1972, ich war im ersten Studienjahr des Graduiertenstudiums der Musikwissenschaften in Yale. Ich kam am Yale Repertory Theatre vorbei und hörte faszinierende Klänge aus der umgenutzten Kirche dringen, in der das Ensemble spielte. Ich schlich mich in die letzte Reihe und war völlig überwältigt: Sie arbeiteten an einem Konzertprogramm mit dem ›Mahagonny Songspiel‹ und den ›Sieben Todsünden‹. (Was ich hörte, hätte ich in dem Moment sicher nicht mit Bobby Darins ›Mack the Knife‹ in Verbindung gebracht, das natürlich jeder kannte.) Ich beschloss auf der Stelle, eine Doktorarbeit über diesen wenig bekannten Komponisten zu schreiben. Gut fünfzig Jahre sitze ich nun schon in Bühnenhäusern und Konzertsälen in aller Welt und ich bin immer noch von Kurt Weills Klangwelt fasziniert.

GF:Welches wäre heute Ihr Weill- Stück für die einsame Insel?

KK: Weill hätte es bei dem Gedanken, seine Musik könnte je in die Splendid Isolation einer einsamen Insel verbannt werden, sicher geschaudert. Doch vor die Frage gestellt, würde ich zwei Stücke sehr empfehlen: Als Bühnenwerk ›Der Silbersee‹, in dem ein paar der schönsten Melodien vorkommen, die Weill geschrieben hat. Als Orchesterwerk den 2. Satz, ›Largo‹, aus der ›Symphonische Fantasie‹ (Sinfonie Nr. 2), die Nali kürzlich brillant mit dem Swedish Chamber Orchestra aufgenommen hat.

GF: Und welches Werk würden Sie denjenigen empfehlen, die nur den »Mackie Messer«-Weill kennen?

KK: ›Die Bürgschaft‹, seine meisterhafte Oper in drei Akten von 1932, welche die Nazis nach nur drei Inszenierungen von den Bühnen verbannten. Lotte Lenya sagte ein Jahr später zu Weill, sie »sehne sich danach, ›Bürgschaft‹ wieder zu hören – es wäre wie ein reinigendes Bad im Jordan oder Ganges«. Zwar sind neunzig Jahre vergangen, doch der fatalistische Ausspruch am Ende könnte gestern geschrieben sein, so frappierend relevant ist er auch für unsere Zeit: »Alles vollzieht sich nach einem Gesetz, dem Gesetz des Geldes, dem Gesetz der Macht.« ›Die Bürgschaft‹ schreit heutzutage förmlich nach einer Inszenierung.