Ensemble Modern auf Tournee mit Sir George Benjamin

Sir George Benjamin im Gespräch

Im Spätsommer wird das Ensemble Modern und das auf Orchestergröße erweiterte Ensemble Modern Orchestra mit Sir George Benjamin und Anna Prohaska als Solistin drei verschiedene Programme erarbeiten, die in sieben Konzerten in Berlin, Köln, London, Frankfurt am Main und Amsterdam aufgeführt werden. Als Komponist und Dirigent hat Sir George Benjamin einen kaum zu überschätzenden Anteil an der Entwicklung der zeitgenössischen Musik der vergangenen Jahrzehnte. Hierfür wurde er im Mai mit dem renommierten Ernst von Siemens Musikpreis gewürdigt. Zugleich markiert das Jahr 2023 für das Ensemble Modern und Sir George Benjamin ein Jubiläum: Vor 30 Jahren fand die erste Zusammenarbeit statt. Jagdish Mistry sprach mit ihm über die bevorstehende Tournee und die ausgewählten Kompositionen.

Jagdish Mistry: Wir wollen über unsere bevorstehende Tournee im September sprechen. Und wir haben zwei Jubiläen zu feiern: Die Internationale Ensemble Modern Akademie existiert seit 20 Jahren. Und dann unsere Arbeit mit dir! Das ist fast dreißig Jahre her.

George Benjamin: War das 1993?

JM: In der Tat. 1993 in Badenweiler und Frankfurt. Ich war in meinem Probejahr beim Ensemble Modern. Das war also das erste Mal, dass wir uns getroffen haben [lacht].

GB: Wir waren auch in Wien, Basel und Berlin. Es war eine gigantische Tour. Ich werde sie nie vergessen.

JM: Absolut. Im Lauf der Jahre haben wir viele große Tourneen gemeinsam gemacht, aber diese wird noch größer. Das Erstaunliche ist, dass wir jedes Mal neue Komponist*innen kennenlernen – das ist ja nach wie vor unsere Mission. Dieses Mal sind es zwei: Elizabeth Ogonek und Dieter Ammann.

GB: Im großen Programm werden wir ausschließlich Orchestermusik von Komponist*innen unserer Zeit spielen. Die Werke von Elizabeth Ogonek und Dieter Ammann sind sehr neu; das Werk von Unsuk Chin ist nur wenige Jahre alt; und dann gibt es eine neue Komposition von Francesco Filidei.

JM: Erzähl uns ein bisschen was über Elizabeth Ogonek.

GB: Ich bin ihr in Tanglewood begegnet, als sie sehr jung war, vor etwa zehn Jahren. Ich habe ab und zu verfolgt, was sie gemacht hat, und dabei ist mir aufgefallen, was für eine persönliche und hochpoetische Sensibilität sich da herausgebildet hat. Eine Komponistin mit viel Vorstellungskraft und Gefühl für vielfältige Perspektiven. Ihr Stück ›Cloudline‹ hat eine geheimnisvolle Atmosphäre. Es beschwört eine Szene, eine Stimmung herauf. Hast du es schon gehört?

JM: Ja, ich habe eine Aufnahme davon gehört …

GB: Was hast du gedacht?

JM: Genau das Gleiche. Sie hat ein sehr feines Gespür für orchestrale Farben. Und auch die Fähigkeit, eine Idee aus der anderen hervorgehen zu lassen.

GB: Ich freue mich sehr darauf, Musik dieser jungen amerikanischen Komponistin zu präsentieren.

JM: Und wie sieht es mit Dieter Ammann aus?

GB: Ich kenne Dieter Ammann schon seit vielen Jahren. Er spielt schon lange in der zeitgenössischen Musik bei der Lucerne Festival Academy eine prominente Rolle. Dort teilt er sich die Verantwortung für das Composer Seminar mit Wolfgang Rihm. Ich habe 2019 mit dem wunderbaren Orchester der Lucerne Festival Academy gearbeitet, und dabei habe ich sein Stück ›glut‹ dirigiert. Das Auffällige an diesem Stück ist sein kolossaler orchestraler Hedonismus – wie schon der Titel suggeriert! Es ist für ein großes Orchester mit einem überschäumenden Maß an Virtuosität geschrieben. Außerdem ist der Klang selbst sehr farbreich und fantasievoll. Innerhalb der heutigen Orchesterlandschaft halte ich es für ein ausgesprochen überraschendes Werk.

JM: Wunderbar. Lass uns über Francesco Filidei reden. Das ist ein brandneues Werk – während wir hier sprechen, wird es wahrscheinlich komponiert. Das war eine Empfehlung von uns, aber kennst du seine Musik?

GB: Ja, im Lauf der Jahre habe ich etliche seiner Stücke gehört, und die Klangqualität und -präzision, die er aus einem Orchester herausholt, ist bemerkenswert. Seine Arbeit scheint mir auch voller Persönlichkeit zu sein.

JM: Das Werk für Sopran und Orchester passt eigentlich zu deinem sehr frühen ›A Mind of Winter‹. Kannst du uns etwas zur Genese dieses Werks erzählen? Wir sprechen immerhin über ein Stück, das vor über 40 Jahren geschrieben wurde.

GB: Ich weiß. Ist das nicht erschreckend? Ich schrieb dieses Stück als Student, da war ich gerade 21. Es ist eine Vertonung von ›The Snow Man‹, einem kurzen Gedicht des großen amerikanischen Dichters Wallace Stevens. Darin wird eine leuchtende, wunderschöne, von Eis und Schnee bedeckte Landschaft beschrieben, in deren Zentrum sich eine rätselhafte Figur befindet. Ich bin besonders glücklich darüber, dass sowohl das Stück von Filidei als auch dieses von der wunderbaren Anna Prohaska gesungen werden, die ich schon seit vielen Jahren aus der Ferne bewundere. Jetzt können wir endlich zusammenarbeiten. Sie spielt auch in meiner neuen Oper, die diesen Sommer in Aix-en-Provence uraufgeführt wird, eine sehr wichtige Rolle.

JM: Dann bleibt noch Unsuk Chins Stück ›Spira‹. Wie passt das zu den anderen?

GB: Das ist ein explosives Paradestück, das mit unglaublicher Fantasie erdacht wurde. Ich habe ihre Musik entdeckt, als ich für das IRCAM in Paris in den 1980er Jahren in einer Jury saß. Alles war anonym, und wir hatten 350 Partituren zu beurteilen, aber ihre war diejenige, die mir wirklich ins Auge sprang. Und hier haben wir Unsuk 30 Jahre später: Dieselbe Stimme, dieselbe sehr spezifische und individuelle Persönlichkeit, aber mit der Meisterschaft, die sie durch jahrelanges Komponieren für Orchester erworben hat. Hast du ›Spira‹ auch schon gehört, Jagdish?

JM: Nein, dieses Stück habe ich noch nicht gehört, aber ich habe kürzlich ein anderes Werk von ihr gehört, ein Konzert für Sheng und Orchester. Das war absolut außergewöhnlich. Irgendwie … war der sehr exotische Charakter der Sheng völlig in den Gesamtklang des Orchesters integriert. Was sie auch tut, es hat immer eine dynamische Qualität.

GB: Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in diesem Programm zwei eher ruhige Stücke gibt – das von Ogonek und meine eigene Partitur, während das erste und das letzte Stück überschwängliche, vielfarbige Hommagen an das moderne Orchester, das Orchester des 21. Jahrhunderts, sind. Was Filidei angeht, so wissen wir es einfach nicht, ich habe noch keinen Takt gesehen – also können wir nur abwarten.

JM:[lacht]

GB: Das ist schon in Ordnung. Toleranz für Komponist*innen! [lacht] Komponieren ist schwer – und noch bleiben viele Monate Zeit.

JM: Kommen wir zum kleineren Programm des Ensemble Modern. Wir haben deine Versionen von Bach …

GB: Ja, zwei Sätze aus der ›Kunst der Fuge‹, die ich für kleines Ensemble transkribiert habe. Es war Pierre Boulez, der mich vor etwa 15 Jahren bat, dieses Arrangement für ein Konzert an der Cité de la musique in Paris zu machen. Die Idee war, diese Bach-Transkription zusammen mit seinem sehr schönen ›Mémoriale‹ aufzuführen, beide für die gleiche Besetzung: Soloflöte, zwei Hörner und sechs Streicher.

JM: Ich verstehe.

GB: Der erste Satz ist ein einstimmiger Kanon, während der zweite aus einer komplexen Fuge besteht, in der außergewöhnliche Dinge mit dem Thema geschehen. Es wird nicht nur augmentiert, also in den Notenwerten vergrößert, und dann doppelt augmentiert, sondern auch auf den Kopf gestellt und in ganz unerwarteter Weise mit sich selbst kombiniert. Es ist eine Meisterleistung des kontrapunktischen Denkens. Ich habe die langsamsten Versionen des Themas in etwas unkonventioneller Weise gesetzt, wobei ich den Klang einer Orgel evozieren wollte, indem ich die höheren parallelen Obertöne nutze.

Dann haben wir noch ein Streichquartett auf dem Programm, das mein höchst talentierter ehemaliger Student Saed Haddad komponiert hat – ich freue mich sehr, dass wir ein Stück von ihm dabeihaben, und der Rest des Repertoires besteht aus Klassikern des frühen 20. Jahrhunderts …

JM: Genau.

GB: … die, wie ich finde, heutzutage nicht mehr sehr oft gespielt werden. Ensembles für zeitgenössische Musik konzentrieren sich auf lebende Komponist*innen und neue Werke, und das soll auch so sein, aber da wir uns weiter und weiter von den Wurzeln der Moderne im frühen 20. Jahrhundert entfernen, finden diese Stücke manchmal nicht den Weg in die Programme. Im Gegensatz zu unserem Orchesterprogramm haben wir hier also drei große Meister des frühen 20. Jahrhunderts: Varèse, Ravel und Schönberg.

JM: So ist es.

GB: ›Octandre‹ von Varèse ist ein wunderbares Stück. Es ist das einzige Stück, das er ohne Schlagwerk geschrieben hat. Es kommt in seinem Werkkatalog der Kammermusik am nächsten, aber diese drei kurzen Sätze für Bläser und Kontrabass vermitteln seine ganze Persönlichkeit. ›Trois Poèmes de Stéphane Mallarmé‹ von Ravel wurde zum Teil von Schönbergs ›Pierrot Lunaire‹ inspiriert, und in mancher Hinsicht ist es sein fortschrittlichstes Werk. Die Syntax und der Diskurs sind unvorhersehbarer, weniger verwurzelt in Tanzrhythmen, als es bei ihm normalerweise der Fall ist. Die harmonische Sprache ist atemberaubend subtil, und die Kombination von Klangfarben – die durch die Mischung von vier Bläsern, Streichquartett, Klavier und Stimme entstehen – ist phänomenal.

JM: Und nun kommen wir zum »Sorgenkind« dieses Programms.

GB: Nun, es ist kein Sorgenkind, sondern ein erstaunliches Stück. Es ist ein sehr wichtiges Stück: Die Kammersymphonie ist Schönberg am Ende seiner tonalen Schaffensperiode, wo man spüren kann, wie die Sprache zerreißt.

JM: Ja, das stimmt. Ich nenne es nur so, weil es für uns Musiker*innen, besonders für das Streichquartett, das vorn sitzt – mit einer kompletten Bläserriege hinter sich, sehr schwierig ist.

GB: Ja, es sind viele Blasinstrumente, und die zwei Hörner produzieren eine Menge Klang. Teilweise spürt man das Bestreben, die Intensität polyphonischen Erfindungsreichtums im Spätwerk Mahlers, wo ein Orchester von bis zu hundert Musiker*innen eingesetzt wird, noch zu vergrößern – während hier die Streicher nur ein Quartett plus Kontrabass sind. Ja, das Stück ist eine Herausforderung. Man hat den Eindruck, als habe Schönberg sich beim Komponieren ein volles Orchester vorgestellt, und in der Tat hat er später eine Version für großes Orchester veröffentlicht. Das Stück strotzt nur so vor Lebendigkeit, Einfallsreichtum, Energie und kontrapunktischer Intensität. Es ist wie ein Vulkan, nicht wahr?

JM: Dieser vulkanische Effekt entsteht dadurch, dass die Idee einer Symphonie so komprimiert wird, nicht wahr? Du hast Mahler erwähnt: Es ist genau wie Mahler, nur in 20 Minuten! Er stapelt einfach eins auf das andere, mehr denn je.

GB: Dieser kontrapunktische Überschwang ist extrem. Man verliert im Laufe dieser ziemlich langen Abschnitte jedes Gefühl für Tonarten – und dann wird man plötzlich, wie von einem Magneten, in eine Art Kadenz oder Funktionalität zurückversetzt. Er schneidet einfach die Enden dieser Phrasen ab, und schon bewegen wir uns in frei schwebendem, harmonischen Gelände, das nicht mehr von einer Tonart und den Phänomenen des Dreiklangs geerdet wird.

JM: Absolut. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass das Stück viel besser auf Aufnahmen funktioniert, weil man es da selektiv ausbalancieren kann. Im Konzert ist es dagegen sehr schwierig, eine Art Gesamtklang zu finden.

GB: Wir müssen auch bedenken, wo wir spielen. Der Mozart Saal in Frankfurt am Main hat eine sehr klare Akustik, während die Wigmore Hall in London einen wunderbar großzügigen Klang besitzt. Daher denke ich nicht, dass man alles im Voraus entscheiden sollte. Ich dirigiere dieses Stück zum ersten Mal, also ist es für mich auch eine Art Abenteuer. Und wie auch immer meine Fähigkeiten als Musiker sind – ich werde mein Bestes geben, um dieses bemerkenswerte Stück lebendig werden zu lassen.

JM: Und dann kommen wir zum letzten Konzert in Amsterdam … Das ist ein Benjamin-Konzert. Wir spielen ›Into the Little Hill‹ und ›At First Light‹ von dir. Beide haben wir oft mit dir aufgeführt, und ich freue mich immer noch darauf, weil sie beide meiner Meinung nach wirklich unglaublich wichtige Stücke sind, an denen wir als Ensemble gewachsen sind. Wir haben sie auch Ende Mai bei der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises in München gespielt. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Auszeichnung, die meiner Meinung nach längst überfällig war.

GB: Nein, nein. Ich freue mich außerordentlich und war einfach völlig erstaunt und sehr glücklich, als ich davon erfuhr. Als Student hätte ich nie geglaubt, dass ich einmal mehr Konzerte in Deutschland als in irgendeinem anderen Land geben würde. Das alles wäre allerdings niemals ohne das Ensemble Modern geschehen, das mir vor 30 Jahren die Tür zu dem außerordentlichen Musikleben in Deutschland eröffnete. Während dieser Zeit haben wir unglaublich oft zusammengearbeitet. ›At First Light‹ wurde während unserer allerersten gemeinsamen Tournee gespielt – und ich schrieb ›Into the Little Hill‹ für euch.

JM: Wir haben auch noch György Ligetis Kammerkonzert.

GB: Es ist wunderbar, dieses magische Werk von diesem fraglos großartigen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Jahr seines hundertjährigen Geburtstags zu spielen. Ihr kanntet ihn sehr gut, nicht wahr?

JM: Ja! Zum Schluss habe ich noch eine Frage: Hast du eine Meinung zu Konzertreisen heutzutage?

GB: Meinst du den ökologischen Fußabdruck?

JM: Genau. Das ist für uns Musiker*innen eine sehr schwierige Frage, weil wir davon leben, so viel wie möglich vor unterschiedlichen Menschen auf der ganzen Welt aufzutreten.

GB: Es würde mir das Herz brechen, wenn das aus und vorbei wäre. Es ist essenziell, dass die Dinge zirkulieren, nicht nur für das Publikum und die Ausführenden, sondern auch für die Gesundheit der Musik. Besonders für die neue Musik ist es so wichtig, dass Ideen wandern, dass Stücke gespielt werden, dass die unterschiedlichen Aufführungsstile, Zugänge zur Musik, Spielweisen des gleichen Stücks in unterschiedlichen Städten gehört werden. Mir ist auf dem Tourneeplan aufgefallen, dass wir die meisten Reisen jetzt mit dem Zug machen, was eine bemerkenswerte Entwicklung ist. Aber wenn ihr nur in Frankfurt bliebet – und meine Landsleute nur in London, dann würde etwas Großes in der Geschichte der Musik sterben.

JM: Ja,das ist wahr. Es gibt keine saubere Lösung oder klare Antwort für ein solches Dilemma. In jedem Fall sollten wir versuchen, unseren ökologischen Fußabdruck auf dieser Erde zu minimieren. Vielleicht ist das ein gutes Schlusswort. Vielen Dank, wir freuen uns wahnsinnig auf unsere gemeinsamen Konzerte.