George Lewis' Song of the Shank

Ein Gespräch mit George Lewis, Jeffery Renard Allen und Stan Douglas

»Blind Tom« wurde er genannt, der schwarze Pianist und Komponist Thomas Wiggins, geboren 1849 als Sohn versklavter Eltern im US-Bundesstaat Georgia. Schon früh stieg er zu einer illustren Künstlerpersönlichkeit auf. Als »Wunderkind« am Klavier wurde er als »schwarzer Mozart« apostrophiert. Doch im 20. Jahrhundert geriet er in Vergessenheit. Der amerikanische Schriftsteller Jeffery Renard Allen entdeckte ihn wieder und verfasste 2014 den Roman ›Song of the Shank‹. Und der Komponist George Lewis schreibt für das Ensemble Modern ein gleichnamiges Werk über »Blind Tom«, das am 5. Juni 2023 in Frankfurt am Main uraufgeführt wird und vom 13. bis 15. Juni 2023 bei den Wiener Festwochen in einer szenischen Fassung zur Erstaufführung kommt. Egbert Hiller sprach mit George Lewis, Jeffery Renard Allen und dem Regisseur Stan Douglas.

Egbert Hiller: George, du hast für das Ensemble Modern das Projekt ›Afro-Modernism in Contemporary Music‹ kuratiert, mit dem zeitgenössische Komponist*innen afrikanischer Herkunft ins Licht gerückt werden. Besteht zwischen ›Afro-Modernism‹ und ›Song of the Shank‹ ein innerer Zusammenhang?

George Lewis: Ja, das Ensemble Modern und ich haben 2018 über beide Projekte diskutiert und sie in die Wege geleitet. ›Afro-Modernism‹ wurde 2020 realisiert, und ›Song of the Shank‹ ist jetzt in Vorbereitung. Der innere Zusammenhang ist der, dass es eine Kontinuität hat, dass schwarze Komponierende bis heute kaum wahrgenommen werden – und falls sie es einmal geschafft haben, bekannt zu werden, sind sie schnell wieder vergessen und verschwinden aus der Musikgeschichtsschreibung; auch wenn sie so berühmt waren wie »Blind Tom«. Er war ein famoser Musiker und gab überall in den USA und in Europa Konzerte. Dann geriet er in Vergessenheit, und dieses Vergessen hält bis in die Gegenwart an. Mir ist es wichtig, daran etwas zu ändern. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf schwarze Komponist* innen lenken: mit Konzerten, Vorträgen und anderen Veranstaltungsformaten. Dabei spüre ich, dass das Publikum sehr neugierig darauf ist, mehr über diese Künstlerpersönlichkeiten zu erfahren und ihre Musik zu hören. Als ich Jefferys Roman ›Song of the Shank‹ gelesen habe, war ich sofort entflammt. Er hat gerade das Libretto fertiggestellt. Wir kennen uns schon seit 2004, als er die University of California in San Diego besuchte, an der ich damals Professor war. Stan, der das Stück inszenieren wird, bin ich bereits vor über 30 Jahren begegnet. Ich glaube, wir sind ein gutes Team.

Hiller: Der Roman beruht auf der bewegten Lebensgeschichte von Tom Wiggins. Wie seid ihr darauf gestoßen?

Jeffery Renard Allen: Zum ersten Mal gelesen über ihn habe ich vor gut 25 Jahren in dem Buch ›Eine Anthropologin auf dem Mars‹ des Neurologen Oliver Sacks. In einem Kapitel behandelt Sacks den Autismus; ein Abschnitt ist »Blind Tom« gewidmet, als ein historisches Beispiel für einen ungewöhnlichen Autismus. Das hat mich sofort fasziniert. Ich habe viel über ihn recherchiert und herausgefunden, dass er einer der populärsten Pianisten seiner Zeit war, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Später war er fast völlig unbekannt. Diese Tatsache hat mich umso mehr für ihn eingenommen. Dann sagte George mir, dass er mit meinem Roman als Grundlage ein neues musikalisches Bühnenwerk schreiben möchte.

Hiller: Gibt es schon Ideen für die Inszenierung? Wird sie eher realistisch ausfallen oder »Blind Tom« abstrahieren, ihn mehr als Archetypen beleuchten?

Stan Douglas: Es wird kein bloßes Nacherzählen der Lebensumstände von »Blind Tom« geben. Wir werden eine Sprache und Bilder finden, die ihn in seiner ganzen Komplexität zeigen. Besonders soll es darum gehen, seine innere Welt, die ja, da er blind war, vor allem eine Klangwelt war, sichtbar zu machen und zum Ausdruck zu bringen. Seine obsessive Hinwendung zum Klang, zum Klavierspielen, das er exzessiv betrieb, und sein Interesse an allem, was damit zusammenhing, werden im Zentrum stehen – auch seine Vorstellung vom Zustand der Welt, so wie er sie »sah«, im übertragenen Sinne natürlich, ohne zu vereinfachen.

Hiller: Wird »Blind Tom« als reale Person auf der Bühne erscheinen, etwa als Pianist?

Douglas: Nicht in herkömmlicher Weise, denn er wird in drei Personen aufgesplittet und mit verschiedenen musikalischen Schichten identifiziert. Georges Werk ist für Countertenor, Klavier und großes Ensemble konzipiert, und jede dieser Ebenen repräsentiert einen Teil von ihm. Die einzelnen Parts treten vor und zurück, durchdringen sich aber auch und können sich gegenseitig kommentieren und widersprechen.

Lewis: Das Wechselspiel zwischen konkreter und abstrakter Darstellung spiegelt sich schon in der Werkanlage selbst wider, denn es sind zwei Umsetzungen vorgesehen: als Bühnenwerk und als Ensemblestück, wobei im Letzteren die Handlung per se ins Reich der Fantasie entrückt ist.

Hiller: Im Gegenzug verstehst gerade du es, deine Instrumentalmusik dem wirklichen Leben abzulauschen. Ich denke da an ein Stück für improvisierendes Ensemble, ›Artificial Life‹ von 2007, das höchst anregend unterstreicht, dass die »künstliche« Sphäre der Musik hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft, Humor und Ernst, Einvernehmen, Zwietracht und Missverständnis viel mit dem Alltagsleben zu tun hat. Wie ist es in ›Song of the Shank‹?

Lewis: Im Gegensatz zu ›Artificial Life‹ wird die Musik für ›Song of the Shank‹ streng notiert sein, und ich knüpfe daran an, dass Wiggins viel nachgeahmt hat. Er imitierte Klänge aus der Natur, aus der Alltagswelt, Pferdekutschen zum Beispiel, er schrieb ein Stück über die Geräusche von Nähmaschinen, und in seinem berühmtesten Werk ›The Battle of Manassas‹, das eine Episode aus dem amerikanischen Bürgerkrieg thematisiert, hat er die Marseillaise zitiert. Sehr spannend für mich ist, dass ich musikalisch gerade nicht in »Blind Toms« Welt des 19. Jahrhunderts eintauche, sondern sie ins Hier und Jetzt, in meine Musik von heute, übertrage.

Hiller: Dass er viel imitiert hat, rührt wahrscheinlich auch von seiner Blindheit her. Er war von Geburt an blind und musste sich von den Dingen, die er wahrnahm, mit akustischen Mitteln ein »Bild« machen.

Lewis: Dazu kommt, dass die klangliche Darstellung von außermusikalischen Phänomenen eine wesentliche Tendenz in der amerikanischen Musik ist. Duke Ellington hat Harlem oft dargestellt, Charles Ives hat New England repräsentiert und Amy Beach komponierte ihre ›Gaelic Symphony‹. Das sind nur einige Beispiele. Wiggins ist mit seinem Nachahmungsdrang eng mit ihnen verbunden; zudem hat er schon moderne Elemente wie Cluster eingesetzt, die auf Henry Cowell vorausweisen, der wiederum ein wichtiger Bezugspunkt für John Cage war. Diese Linien möchte ich in ›Song of the Shank‹ weiterverfolgen, ohne das Schicksal von »Blind Tom« auszublenden. Wie konnte ein Mensch wie er existieren? Als ein versklavter Mensch, der sich in seiner Musik in unerhörte geistige Regionen vortastete und damit exemplarisch für ein hohes Ideal von Humanität steht. Er war damit auch eine paradoxe Figur, und das inspiriert mich. ganze Welt und spielte unglaubliche Musik, seine eigene und auch die der europäischen Klassiker. Er kreiste stark um sich selbst, aber natürlich wurde sein Leben auch von äußeren Geschehnissen wie dem amerikanischen Bürgerkrieg beeinflusst.

Hiller: Was bedeutet in diesem Kontext das Wort »shank« im Titel? Es gibt mehrere deutsche Übersetzungen: Schenkel, Schaft oder auch Stichwaffe.

Allen: Im Gefängnisjargon bezeichnet »shank« ein Messer. Für mich steht das Wort auch für das Durchtrennende, so wie »Blind Tom« von seiner Familie getrennt wurde. Als »shank« werden aber auch die verschiedenen Fleischtypen bezeichnet, die beim Schlachten eines Tieres anfallen, was darauf anspielt, dass die Sklaven oft wie Tiere angesehen und behandelt wurden. Das sind einige Gedanken, die ich mit dem Titel verbinde.

Hiller: Ich denke auch, dass sich am Leben und an der künstlerischen Identität von Wiggins vieles festmachen lässt, was noch heute relevant ist: politische, menschliche und schöpferische Aspekte.

Allen: Ja, und er war eine unglaublich exponierte Persönlichkeit. Mit sieben Jahren hat er schon Konzerte gegeben. Als er zehn Jahre alt war, spielte er als erster Afroamerikaner im Weißen Haus. Als Sklave reiste er um die / ganze Welt und spielte unglaubliche Musik, seine eigene und auch die der europäischen Klassiker. Er kreiste stark um sich selbst, aber natürlich wurde sein Leben auch von äußeren Geschehnissen wie dem amerikanischen Bürgerkrieg beeinflusst.

Hiller: Was bedeutet in diesem Kontext das Wort »shank« im Titel? Es gibt mehrere deutsche Übersetzungen: Schenkel, Schaft oder auch Stichwaffe.

Allen: Im Gefängnisjargon bezeichnet »shank« ein Messer. Für mich steht das Wort auch für das Durchtrennende, so wie »Blind Tom« von seiner Familie getrennt wurde. Als »shank« werden aber auch die verschiedenen Fleischtypen bezeichnet, die beim Schlachten eines Tieres anfallen, was darauf anspielt, dass die Sklaven oft wie Tiere angesehen und behandelt wurden. Das sind einige Gedanken, die ich mit dem Titel verbinde.

Lewis: Mich beflügelt der Titel, eine messerscharfe Musik zu schreiben, die der Vielschichtigkeit von »Blind Toms« Existenz gerecht wird und zugleich unsere Zeit reflektiert – auch aktuelle Fragen zu Rassismus und Menschenrechten fließen ein, ohne dass ›Song of the Shank‹ zum politischen Statement gerät.

Hiller: Ich denke, es ist sehr wichtig für dich, gerade bei diesem Projekt mit dem Ensemble Modern zu arbeiten.

Lewis: Ja, ich bin sehr glücklich darüber. Wir haben schon lange Kontakt miteinander, aber das ist mein erstes Stück für die Formation. Für mich geht damit ein Traum in Erfüllung.