A House of Call – My Imaginary Notebook

Heiner Goebbels im Gespräch mit Winrich Hopp

Der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels schrieb auf Initiative des Ensemble Modern und des Musikfest Berlin einen abendfüllenden Orchesterzyklus, der beim Musikfest Berlin am 30. August 2021 in der Berliner Philharmonie vom Ensemble Modern Orchestra unter der Leitung von Vimbayi Kaziboni uraufgeführt werden wird. Anschließend ist das Werk auch in Köln, Düsseldorf, Hamburg, München sowie 2022 in weiteren europäischen Städten zu erleben. Das Projekt im Rahmen von BTHVN 2020 war ursprünglich für das Beethoven-Jubiläumsjahr 2020 geplant, musste jedoch pandemiebedingt verschoben werden. Winrich Hopp, Künstlerischer Leiter des Musikfest Berlin und der Münchner musica viva-Konzertreihe, sprach mit Heiner Goebbels über ›A House of Call. My Imaginary Notebook‹, hinter dem sich überraschenderweise ein Liederbuch verbirgt ...

Winrich Hopp: Lieber Heiner, in deinem künstlerischen Umfeld tauchen immer wieder zwei Komponistennamen auf: der Niederländer Louis Andriessen und der Franzose Luc Ferrari. Es scheint mir, für sie hegst du, neben John Cage und Helmut Lachenmann, eine besondere Sympathie.

Heiner Goebbels: Ja, beide haben ein anderes, »entspannteres« Verhältnis zu den Hörern. Die Arbeiten von Louis Andriessen kenne und schätze ich seit den 1970er Jahren und bin mit ihm befreundet; mit Luc Ferrari war ich es – er ist leider viel zu früh gegangen ...
Ferarris Musik habe ich immer als eine Einladung empfunden, in der es keine starke Hierarchisierung des Materials gibt. Er wollte die Leute nicht überreden, nicht übertrumpfen und nicht schockieren. Eine solche Autoritätsbeziehung zum Publikum, die man ja durchaus auch bei den Komponisten seiner Generation findet, war ihm fremd.

WH: Ich finde es interessant, dass du das Wort »entspannt« gebrauchst. Die Musik Beethovens steht ja enorm unter Spannung. Adorno hat in seinem Fragment gebliebenen und postum erschienenen Beethoven-Buch, das er als eine »Philosophie der Musik« geplant hatte, Musik ganz allgemein in den »intensiven Typ« und den »extensiven Typ« unterschieden. Der »intensive Typ« ist von der Zeit getrieben, sogar dann, wenn er selbst es ist, der sie aus sich hervortreibt. Dagegen der »extensive Typ«, der Zeit hat und sich Zeit lässt. Natürlich gibt es Mischungen. Was ist das für dich: Spannung, Entspanntheit? Betrifft das die Kunst selbst, oder steht das für eine Haltung des Künstlers?

HG: »Entspannung« ist eigentlich ein polemischer Begriff, denn wenn etwas wirklich entspannt ist, kann es wahnsinnig langweilig sein. Ich meine damit eher, ob dem Publikum auf Augenhöhe begegnet wird oder ob man als Hörer den Eindruck hat, hier glaubt jemand, mich von einer höheren Warte aufklären oder belehren zu müssen. Und ein solches Auftrumpfen stand mir bei Beethoven durchaus im Wege.
Ich bin, glaube ich, vom klassisch verengten Repertoirebegriff geschädigt. Denn in der pfälzischen Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, hatten wir durch einen glücklichen Zufall in der dortigen Jugendstil-Festhalle zwar ein sehr reichhaltiges Musikprogramm, durch das ich die bedeutendsten Solisten, Orchester und Dirigenten dieser Zeit erleben konnte. Wenn sogar Karajan und die Berliner Philharmoniker in die Pfalz kamen, war das zwar ein Ereignis, hat mich vielleicht beeindruckt, aber berührt hat es mich nicht. Berührt haben mich die langsamen Sätze in den Violinkonzerten von Bach mit David Oistrach oder frühe, quasi theatrale Erfahrungen, wenn Celibidache tanzend über dem Podium schwebt, wenn Mstislaw Rostropowitsch das Publikum eine Viertelstunde warten lässt, oder die bekannte Beethoven-Pianistin Elly Ney als Zugabe ›Guten Abend, gut’ Nacht‹ spielt und den ganzen Saal zum Mitsingen auffordert. Plötzlich werden die Grenzen dessen überschritten, was ein klassisches, akademisches Konzert ist.

WH: Ein Auslöser dafür, nicht nur »Stücke«, sondern eigentlich das Konzertformat zu komponieren?

HG: Ja, und dieses zu verändern. Zum Beispiel in den 1980er Jahren der Versuch, mit Jazzmusikern Heiner Müllers ›Mann im Fahrstuhl‹ als szenisches Konzert zu denken − oder bei den ersten Konzerten mit dem Ensemble Modern mit Mikrofonierung und Licht zu arbeiten und mit anderen Strategien die Stereotypen der Konzertform zumindest zu hinterfragen. Den komplexeren Beethoven, der andere Seiten hat − wie sie Adorno erwähnt hat: den Beethoven der Bagatellen oder des vierten Klavierkonzertes oder der späten Sonaten, habe ich erst viel später kennengelernt.

WH: Jetzt hast du ein neues Orchesterstück geschrieben; ein Format, das bislang nicht deinen Werkkatalog beherrscht.

HG: Es gibt bislang nur ›Surrogate Cities‹ als Zyklus und eine Handvoll Orchesterstücke. Seit 20 Jahren habe ich – mit zwei Ausnahmen – kein Orchesterstück mehr komponiert. Es interessiert mich nicht, wenn ein Stück von mir zwischen Strauss und Beethoven gespielt wird – oder eher vor Beethoven und Strauss. Erst wenn ich die Möglichkeit habe, einen ganzen Abend dramaturgisch zu strukturieren, kann ich dem Publikum eine starke, innere künstlerische Erfahrung anbieten.

WH: In deinem Stück ›A House of Call‹ bilden auch Stimmen eine substanzielle Ebene. Das sind Stimmen, denen du begegnet bist, die du gefunden und aufgenommen hast. So wie man Gesichtern begegnet. Oder Fotografien. Eigentlich akustische Bewegtbilder.

HG: Ja. Wobei mich die tatsächlichen Gesichter nicht interessieren. Bei einer sogenannten »akusmatischen« Stimme, also einer Stimme, deren Quelle man nicht sieht, interessiert mich eher dieser Wunsch, sie sehen zu wollen – der aber unerfüllt bleibt. Dieses Begehren ist das wichtigste Potenzial für die Imagination: Wer singt hier? Wo wird gesungen? Warum? Worüber? Man muss sich als Hörer die Personen, die man hört, selbst inszenieren – über das, was die Stimmen ausstrahlen, was sie als Assoziation, als Bedürfnis wecken. Was wir an Erfahrungen, Sehnsüchten, Ängsten oder an Bedürfnissen entwickeln, ist ein wichtiger Anteil an der Aufarbeitung akustischer Erfahrung.

WH: Ist das einfach nur das Nicht-Da des Körpers, das die Imagination in Kraft treten und das Abwesende ergänzen lässt, oder ist es eine bestimmte Qualität der jeweiligen Stimme?

HG: Zuallererst natürlich eine Stimme, von der wir uns angesprochen fühlen, eine eigene, eigentümliche und nicht eine standardisierte Stimme. Eine Stimme, die ihre Körperspur, ihre Geschichte, ihre Erfahrungen nicht verleugnet. Aber es ist in meinen Musiktheater-Stücken auch ein bestimmendes Motiv, dass das Zentrum nicht besetzt ist, dass das, was wir zu sehen erwarten, fehlt – und was sich in mir als Betrachter dabei ereignet. Denn der Wunsch nach einem Zentrum bleibt natürlich.

WH: Das heißt, als Komponist konstituierst du Abwesenheiten?

HG: Ich glaube, es kann für alle Betrachter reicher sein, wenn das Zentrum nicht besetzt ist. 150 Zuschauer, die in ›Stifters Dinge‹ sitzen, denken sich 150 verschiedene Geschichten aus, weil niemand auf der Bühne steht, der etwas verkörpert und die Aufmerksamkeit an sich bindet. Aber alle sehen etwas, das mit den thematischen Feldern zu tun hat, die vom Stück eröffnet werden. Ich rahme, umzingele die Themen. In ›Stifters Dinge‹ sind es ethnologische, ökologische Fragen. Bei ›Eislermaterial‹ ist es nicht unähnlich: Natürlich werden eine politische Zeit und eine politische Haltung aufgerufen mit seinem Material. Meine Hoffnung ist, dass wir plötzlich die Chance haben, etwas Eigenes zu erleben und zu denken. Das Eigene zu denken, das ist es auch, was mich an den Architekturen von Louis Andriessen interessiert, beispielsweise wenn er zur Eröffnung seiner Oper ›De Materie‹ 144 Mal denselben Akkord spielt. Es ist wie ein leeres Gebäude, ein Rohbau; was in diesem Gebäude passiert, das ist Sache der Zuschauer bzw. Zuhörer.

WH: Stell dir vor, du bist in einem zentral organisierten Raum, in einer Konzert-, Opern- oder Theateraufführung. Schaffst du es, das Geschehen mittels deiner eigenen Wahrnehmung zu dezentralisieren? Auch die Protagonisten aus dem Fokus zu nehmen?

HG: Nicht wirklich. Es interessiert mich immer weniger, wenn eine Aufführung um einen Solisten oder eine Solistin, einen starken Protagonisten oder einen fantastischen Tänzer oder eine virtuose Schauspielerin zentriert ist. Es interessiert mich nicht, mich darin zu spiegeln, mich damit zu identifizieren.

WH: Wie kannst du dir dann noch beispielsweise einen Liederabend vorstellen?

HG: Mit meinem neuen Orchesterstück. Das ist ein Liederabend. Es könnte im Untertitel heißen ›Ein Liederabend‹ oder ›Ein Liederbuch‹.

WH: Du hast dem Stück aber einen anderen Titel gegeben.

HG: ›A House of Call‹.

WH: Das ist ein Ausdruck, der nicht mehr so gängig ist ...

HG: Ich nutze gern Titel, die unvertraut sind. ›Hashirigaki‹ oder ›Eraritjaritjaka‹ zum Beispiel, ein Wort das schon aus der Welt gefallen war. So auch ›A House of Call‹. Noch im 19. Jahrhundert stand es für einen öffentlichen Raum, in dem Mitglieder bestimmter Berufsgruppen, die gerade unbeschäftigt waren, neue Aufträge bekommen konnten. Also Schreiner oder Maurer oder vielleicht auch Schauspieler und Musiker. Auch das Konzert sollte ein öffentlicher Raum sein und nicht der persönliche Ausdruck des jeweiligen Komponisten.
Ich habe den Begriff gefunden im ›Roaratorio‹ von John Cage, das für mich ein wichtiges Hörstück war. Mit einer nicht enden wollenden Kontinuität – eigentlich wie ein Schamane – spricht Cage einzelne Worte aus ›Finnegan’s Wake‹. Er liest sich durch diesen Roman, der de facto über 600 Seiten hat, und sucht dafür nur die Worte aus, die in der Vertikale »James Joyce« ergeben können.
Ich arbeite mit Rufen, mit Anrufungen, Invocations, Incantations, mit Textformen zwischen Litanei und Gebet, mit Gedichten, mit Literatur. Vielleicht trifft ›House of Call‹ also das, was ich vorhabe: All das hat das Potenzial, sich von diesen Stimmen angerufen zu fühlen.

WH: Dazu kommen die instrumentalen Klänge, und die sind live ...

HG: ... und das Orchester antwortet auf diese Stimmen, es reagiert, unterstützt oder unterbricht sie, oder bringt sie an die Öffentlichkeit.

WH: Ist das so eine Art Chor?

HG: Ja. Man könnte auch sagen, ein Responsorium, ein weltliches.

WH: Die Musikerinnen und Musiker des Ensemble Modern begleiten dein Schaffen schon sehr lange − und du sie auch. Ist das eine andere Arbeit, mit Orchestern oder Ensembles zu arbeiten als mit Schauspielern?

HG: Das ist ein großer Unterschied. Ich mache eigentlich lieber Theater, weil es ein sozialer Prozess ist, in dem ich über viele Wochen gemeinsam etwas entwickeln kann. Wenn ich für ein Orchester schreibe, ist das meist ein elendig einsamer Prozess. Diese Einsamkeit ist nicht gut für mich und nicht gut fürs Werk. Bei der Arbeit mit einem Ensemble ist das aber anders. Viele Menschen haben mehr Ideen. Und den Musikern und Musikerinnen des Ensemble Modern, mit denen ich in dieser Weise seit 35 Jahren Musik und Musiktheater erfinden und aufführen kann, verdanke ich sehr, sehr viel. Ihre künstlerische Intelligenz und ihr selbstverantwortliches Arbeiten machen die kollektive Kreativität so wertvoll – und auch deren Vielstimmigkeit steckt in meinen Arbeiten.