Uraufführung ›A Wintery Spring‹ – Dramatisches Lamento in drei Szenen

Ein Gespräch mit Saed Haddad und Corinna Tetzel

Saed Haddads (*1972) dramatisches Lamento ›A Wintery Spring‹ (Ein winterlicher Frühling) setzt sich – ohne eine konkrete Geschichte über den Arabischen Frühling erzählen zu wollen – mit den aktuellen politischen und sozialen Strukturen und Haltungen im Nahen Osten auf der Suche nach Wegen auseinander, die Menschen und Traditionen miteinander verbinden könnten. Das Lamento basiert auf Aphorismen des libanesischen Schriftstellers Khalil Gibran (1883–1931), der 1895 mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in die USA emigrierte. Gibrans zentrale Motive sind Leben und Tod sowie die Liebe als deren verbindendes Element. ›A Wintery Spring‹, eine Koproduktion von Ensemble Modern und der Oper Frankfurt, wird am 22. Februar 2018 im Bockenheimer Depot uraufgeführt. Kombiniert wird das dramatische Lamento mit der szenischen Erstaufführung der barocken Kantate ›Il serpente di bronzo‹ (Die bronzene Schlange) von Jan Dismas Zelenka (1679–1745), in der Gott das zweifelnde Volk Israel mit einer Schlangenplage bestraft, sodass es schließlich seine Verfehlung erkennt. Den Doppelabend bestreitet das Ensemble Modern unter Leitung von Franck Ollu. Mit dem Komponisten Saed Haddad und der Regisseurin Corinna Tetzel sprach Christian Fausch, Künstlerischer Manager und Geschäftsführer des Ensemble Modern.

Ensemble Modern: ›A Wintery Spring‹ basiert auf Texten von Khalil Gibran. Was faszinierte dich an ihnen, Saed?
Saed Haddad: Ich habe sehr viel von Gibran gelesen. Er hat vor rund 100 Jahren einen »Arabischen Frühling« vorhergesagt – damit sind seine Texte hochaktuell. Zudem fühle ich mich Gibran sehr verbunden, denn er hat ähnliche Wurzeln wie ich: Er ist Christ, Araber, emigrierte ins Ausland und hat doch eine emotionale Bindung zum Nahen Osten. So fiel es mir leicht, die drei Texte zu einem Libretto zusammenzustellen.

EM: In der Zusammenstellung bilden die Texte keine konkrete Handlung. Du nennst dein Werk auch nicht Oper oder Musiktheater, sondern dramatisches Lamento. War diese Entscheidung durch die Textvorlage bedingt? Diese abstrakte Form für eine erste musiktheatralische Arbeit zu wählen, ist ja eher ungewöhnlich.
SH: Ich bin in Jordanien geboren und habe 16 Jahre lang dort gelebt, seit 2002 wohne ich in Deutschland. Doch ein Teil von mir bleibt im Nahen Osten – die dortigen Katastrophen berühren mich. Ich glaube, als Künstler habe ich die Verantwortung, mich mit den Geschehnissen in der arabischen Welt kompositorisch zu befassen. Die Form des Lamentos habe ich gewählt, um meine Bindung zur arabischen Welt zum Ausdruck zu bringen. Aber mir war auch die spezielle Form wichtig: Das Lamento dauert insgesamt 50 Minuten, aber nur 18 Minuten davon sind die Sängerinnen und Sänger sowie der vorab aufgenommene Chor zu hören. Ich wollte mich kreativ mit der Form der Oper auseinandersetzen. Viele Opernhandlungen entwickeln sich aus dem immergleichen Konflikt: Der Tenor liebt den Sopran und der Bassbariton ist dagegen. Am Ende finden sie sich doch. Das ist hier anders.

EM: Wie geht man an ein solches Stück heran, das so sehr auf den Text fokussiert ist und dennoch die Protagonisten auf der Bühne verhältnismäßig wenig ins musikalische Geschehen einbezieht?
Corinna Tetzel: Die Annäherung an ein Stück über den Text ist für mich der normale Prozess, unabhängig davon, ob es sich um narrative oder dramatische Texte handelt. Der Text ist der Ausgangspunkt. Er wird von der Musik widergespiegelt und aus dem spezifischen Verhältnis von Text und Musik lässt sich eine Idee für die szenische Umsetzung entwickeln. Bei ›A Wintery Spring‹ gibt es keine dramatische Handlung, wohl aber eine dramatische Figur: den Schriftsteller. Im letzten Teil ›Dead are my people‹ offenbart sich, dass die bis zu diesem Zeitpunkt aufgetretenen Figuren – mit ihrer Vision einer kraftvollen arabischen Nation einerseits und mit ihrer Verbitterung hinsichtlich andauernder Kämpfe und Stagnation andererseits – der Fantasie des »Poeten« entspringen. So gesehen ist die epische Struktur der Texte auf eine sehr persönliche und damit sehr emotionale Auseinandersetzung zurückzuführen – nämlich die eines im Exil lebenden Schriftstellers. »What can an exiled son do for his starving people?« (Was kann ein Sohn im Exil für sein hungerndes Volk tun?) Dieser Prozess ist sehr dramatisch und trägt auch über rein musikalische Passagen, ohne direkte Gesangsabschnitte.

EM: Also doch eine Art Erzähl-situation?
CT: Ja, aber erst in der Retrospektive. Zunächst hat das Publikum die volle Freiheit in der Rezeption, was mir sehr wichtig ist.

EM: Saed, du hast dich erstmals 2014 mit der Thematik für diese Arbeit beschäftigt. Seither hat sich viel verändert, dem Aufbruch in der arabischen Welt ist Ernüchterung gefolgt. Hat sich deine Sicht auf den Arabischen Frühling verändert?
SH: Ich wusste von Anfang an, dass dieser Kampf um Freiheit und Würde teuer bezahlt werden würde. Die kulturelle Identität der arabischen Welt basiert nicht wie in Europa auf Individuen, sondern auf einer Stammeskultur. Das ist durch die geografische Lage der arabischen Länder bedingt: Die Wüste ist überall und sie macht es dem Individuum unmöglich, allein zu leben. Diese fast 5000 Jahre alte Stammestradition hält bis heute an. Deshalb funktioniert eine Demokratie in dieser Gesellschaft auch nicht. Die aktuelle Lage in den Ländern ist katastrophal, doch zumindest hat der Arabische Frühling den Weg für freie Meinungsäußerungen außerhalb der arabischen Welt bereitet. Nachdem sie den arabischen Raum verlassen haben, diskutieren viele Araber im Internet, z.B. auf Youtube oder in den sozialen Medien, über religiöse Freiheit und ihre Rechte. Noch ist ein solcher Diskurs ohne Verfolgung durch Geheimdienste und Polizei der autoritären Systeme nur im Ausland möglich. Doch vielleicht ist es ein Prozess; auch bei der Französischen Revolution hat es über 100 Jahre gedauert, das zu etablieren, was wir heute als Europa kennen.

EM: Das klingt nach einer positiven Entwicklung. Ist es also doch nicht so aussichtslos, wie man beim Blick in die hiesigen Zeitungen meinen könnte?
SH: Ich bin kein Prophet, ich versuche, Realist zu sein. Ich habe eine Vision, wie die arabische Welt aussehen könnte, wenn das Individuum an die Stelle des Stammes treten würde. Das arabische Bildungssystem hat viele Probleme; es ist voll von einseitigen, verfälschenden Informationen. Es wird versucht, einen nationalen arabischen Stamm zu erhalten, die Subkulturen (wie das Tamazight oder die aramäische, die koptische Kultur) werden ausgeblendet. Allmählich kann man auch außerhalb des schulischen Systems Informationen finden, wodurch die Menschen die Geschichte neu lesen. Das ist Teil der Revolution: die eigenen Wurzeln zu finden.
CT: Und genau das ist auch das Thema des Schriftstellers. Durch ihn erleben wir Ausbruch und Niedergang der »Revolution« leibhaftig mit: Am Beginn formuliert er die Utopie eines selbstbewussten, auf die eigene Stärke vertrauenden arabischen Volkes ohne Ängste, ohne Kämpfe. Doch der Schaffensprozess stürzt ihn schließlich in eine Existenzkrise: Indem er die Geschichte des arabischen Volkes verarbeitet, gewinnt er zwar seine im Exil verlorene arabische Identität zurück – er selbst wird aber zugleich mehr und mehr von den von ihm angeprangerten Ängsten ergriffen. Letztlich verliert er als Schriftsteller seine Gedankenfreiheit und seine visionäre Kraft. Die »Revolution« bricht zusammen. Er versinkt in Lethargie.
SH: Gibran hatte keine Vision vom Arabischen Frühling in unserem Sinne. Er wollte eine Nation für Araber, deren Land nicht durch die Türken besetzt ist. Er dachte an jeden – unabhängig von der Nationalität – als einen Bruder. Es ist ein sehr positives Konzept, ähnlich dem der Französischen Revolution: »Alle Menschen werden Brüder.« Gibran war voller Hoffnung, doch die Realität sieht leider anders aus.
CT: Die Texte von Gibran sind wunderbar. Sie beinhalten eine Lebensphilosophie, die bestechend einfach und damit auch bestechend wirkungsvoll ist. Es geht um die Wertschätzung des Lebens, darum, die Augen zu öffnen, Dinge zu befragen, denn das Verborgene verschleiert den Blick, lässt uns falsche Annahmen machen. Dabei vertraut Gibran ganz der Kraft der Schöpfung, ähnlich den indischen Mystikern. Daher nehmen Naturbilder, Vergleiche mit Naturphänomenen, einen großen Raum in seiner Poesie ein. Letztendlich hält er uns immer an, das Erkannte durch Handeln zu überprüfen, in eine Erfahrung zu überführen: Das macht diese Philosophie für mich so greifbar.

EM: Die Texte sind im Original auf Englisch, du hast aber einige Passagen selbst ins Arabische übersetzt. Was ist der Hintergrund für dieses Spiel mit den beiden Sprachen?
SH: Es gab mehrere Gründe: Die zweite Szene ›My Countrymen‹ ist ohnehin im Original in Arabisch. Auch empfand ich es als passend, ein Lamento über die arabischen Länder zumindest teilweise in arabischer Sprache zu schreiben. Zudem habe ich mehrere Male Werke von europäischen Komponisten in arabischer Sprache gehört, die nicht gut klangen. Selbst für mich als Muttersprachler war es eine große Herausforderung, den Klang der arabischen Sprache mit all ihren Nuancen und die musikalische Struktur in Übereinstimmung zu bringen. Die Rhythmik des Arabischen kontrolliert die ganze Musik, vor allem die Stimmführung.

EM: Neben den Gesangssolisten gibt es auch einen vorab aufgenommenen Chor. Welche Idee steckt dahinter?
SH: Für mich hat das etwas Mystisches. Der Chor ist da – und doch nicht da. Zunächst singt er nur Fragmente, es folgt eine lange Pause und der Hörer vergisst den Chor. Dann setzt er wieder ein, und es ist zwar keine Überraschung, aber – um es mit den Worten Marcel Prousts zu sagen: »Die wahre Erinnerung kommt aus dem Abgrund des Vergessens«.
CT: Als Thema ist diese »Abwesenheit « des »Anwesenden« natürlich sehr spannend. Auch für den Poeten, der Bezüge zu seiner Heimat aufbaut, die Stimmen seiner »countrymen « in sich trägt, sie aber nicht hören kann, da er nicht vor Ort ist. Was genau sind das für Stimmen? Was bedeutet diese Gruppe, die dem Einzelnen gegenübersteht? Wie verhält sich der Einzelne, wenn die Gruppe nicht greifbar ist?

EM: Kannst du schon etwas zum Bühnenbild von Stephanie Rauch verraten?
CT: Wir haben ein sehr konzentriertes Bühnenbild entwickelt, das Raum für die Figuren und den Text lässt. Es ist uns wichtig, der Dichtung Gibrans ihre volle Wirkungskraft zu geben. Deshalb verzichten wir auch auf die traditionelle Hängung von Übertiteln und transportieren die Texte stattdessen direkt in den Bühnenraum. Das Publikum kann dadurch alle Elemente – Sprache, Figuren, Musik – als Ganzes erfassen. Durch die vielen rein musikalischen Abschnitte kann man den Worten auf diese Weise sehr lange nachsinnen.

EM: ›A Wintery Spring‹ wird als Doppelabend zusammen mit Jan Dismas Zelenkas ›Il serpente di bronzo‹ aufgeführt. Corinna, der Werkvorschlag – den ich wunderbar finde – kam von dir. Wie kamst du ausgerechnet auf eine Barockkomposition?
CT: Zu Anfang gab es die Idee, ein Stück zu finden, an das Saeds Klangsprache anknüpft – vielleicht ein impressionistisches, französisches Werk. Doch bald hatte ich das Gefühl, dass seine Komposition in ihrer melismatisch-verwobenen Textur durch einen Kontrast besser zur Geltung kommt – so gelangte ich zum Barock. Mit Zelenkas ›Il serpente di bronzo‹ steht dem Fließenden, Horizontalen von Saeds Musik eine vertikale, vom Generalbass her gedachte Musik gegenüber. Hinzu kommt, dass das Oratorium auch keine genuin dramatische Gattung ist, sondern kontemplativen Charakter hat. Damit ergab sich für mich eine interessante strukturelle Analogie zu ›A Wintery Spring‹ – abgesehen davon, dass der Begriff »Lamento « maßgeblich im Barockzeitalter geprägt wurde. Und auch inhaltlich gibt es Verbindungen, das Motiv der Wüste beispielsweise: Sie ist Ort und Metapher zugleich.

EM: Eine Verbindung wird ja auch dadurch geschlagen, dass das Ensemble Modern – als Ensemble für Neue Musik – Zelenkas Musik bewusst auf modernen Instrumenten spielt. Wie siehst du die Kombination der beiden Werke, Saed?
SH: Man braucht einen Kontrast und die thematische Ähnlichkeit finde ich sehr gut. Ich habe sogar versucht, einen »Lamento-Bass« einzubauen. Anstelle der fallenden Tetrachorde gibt es in der letzten Szene ›Dead are my people‹ einen ostinaten Trichord (d – fis – f) im Cello – also auch hier ein Bezug ... (schmunzelt).
CT: Zelenkas Stück betrachte ich als »formales Lamento«, etwas Strenges, Systembejahendes; Saeds Komposition ist demgegenüber ein lebendiges Lamento, bei dem es um die individuelle Empfindung und ständige Auseinandersetzung geht, mit dem Ziel, Neues zu entdecken und zu erfahren. »Knowledge is a light, enriching the warmth of life, and all may partake who seek it out« (Wissen ist Licht, das die Wärme des Lebens anreichert, und alle, die es suchen, dürfen daran teilhaben), schreibt Gibran.