Specter / Schreckbilder - Uraufführung von Johannes Maria Staud
Ein Gespräch mit Johannes Maria Staud und Sofia Simitzis›Le Spectre du Gardenia / The Specter of the Gardenia‹ – die Skulptur des Surrealisten Marcel Jean inspirierte den österreichischen Schriftsteller Josef Winkler zu einem eigensinnigen surrealistischen Monolog. Mit ihm gemeinsam hat der Komponist Johannes Maria Staud ›Specter of the Gardenia oder der Tag wird kommen‹ entwickelt, ein Wechselspiel von Musik und Text, das die junge Regisseurin Sofia Simitzis ins Räumliche übertragen hat. Entstanden ist eine installative Konzertperformance, die das Ensemble Modern unter Leitung von Emilio Pomàrico gemeinsam mit Johannes Silberschneider als Sprecher zur Festivaleröffnung des ›steirischen herbstes‹ am 25. und 26. September 2015 in Graz uraufführen wird. Noch während des Entstehungsprozesses dieses szenischen »Experiments« hatte das Ensemble Modern (EM) im April 2015 die Möglichkeit mit Johannes Maria Staud (JMS) und Sofia Simitzis (SoS) über die Zusammenarbeit als Team und über Konzepte und Ideen zur Inszenierung des Abends zu sprechen. Am 2. Mai 2016 kommt ›Specter of the Gardenia oder der Tag wird kommen‹ dann in einer konzertanten Fassung als deutsche Erstaufführung in die Alte Oper Frankfurt. Ebenfalls inspiriert von Josef Winklers Text und gewissermaßen als »Herzstück« des szenischen Abends, komponierte Johannes Maria Staud zudem das rein instrumentale Ensemblewerk ›Auf die Stimme der weißen Kreide (Specter I–III)‹, das am 19. September 2015 beim Festival Musica in Straßburg mit dem Ensemble Modern zur Uraufführung kommt.
Herr Staud, viele Ihrer Werke haben einen Bezug zur Literatur oder zu anderen Kunstformen. Kann man sagen, dass Sie da eine spezielle Affinität haben?
JMS: Die Affinität zum Wort war eigentlich schon immer in meinem Schaffen vorhanden. Ich habe mich mit verschiedensten Literaturformen beschäftigt und mich immer wieder im Monodram, der Kombination von gesprochenem Text mit Musik, versucht. Dies ist natürlich, in Ermangelung eines geeigneteren, ganz bewusst ein Behelfsausdruck. Es gibt das frühe Werk ›Die Ebene‹ (1997) nach einem Text von Hans Arp, eine Beschäftigung mit Charles Baudelaire in ›Le Voyage‹ (2011) und die Zusammenarbeit mit Durs Grünbein und Bruno Ganz in ›Der Riß durch den Tag‹ (2012). Dies ist nun meine vierte Arbeit, in der ein Schauspieler und ein Ensemble kombiniert werden.
Der Text stammt von dem österreichischen Autor Josef Winkler. Wie kam die Zusammenarbeit zustande?
JMS: Uns drei – Josef Winkler, Sofia Simitzis und mich – zusammenzubringen, geht auf die Initiative von Veronica Kaup-Hasler, der Intendantin des ›steirischen herbst‹ zurück. Man kennt Josef Winkler in Österreich als politisch sehr exponierte Person, die ihre Stimme mit großer Hartnäckigkeit gegen Rechtspopulismus und Korruption erhoben hat. Sein schonungsloses Abarbeiten an seiner eigenen Kindheit in einem kleinen Kärntner Dorf und seine präzisen, zwischen Zorn und Zärtlichkeit schwankenden poetischen Bilder faszinierten mich schon lange, und ich freue mich sehr, dass nun eine Zusammenarbeit zustande kommt.
Wie entstand der Text? Hat Josef Winkler ihn im Austausch mit Ihnen entwickelt?
JMS: Wir haben uns oft getroffen und uns auch zu dritt unterhalten. Josef hat seinen Text ja extra für diesen Anlass geschrieben. Er ist in mehreren Etappen und Versionen entstanden, stets in engem persönlichem Austausch. Zentral dabei ist Josefs sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Surrealismus und die Fortsetzung dieser Gedankenwelt in die heutige Zeit; etwas, das es so in seinem OEuvre bisher wohl nicht gegeben hat. Im Mai werden wir alle gemeinsam versuchen, den Text und die Musik kurzzuschließen. Da werden wir nochmals Dinge probieren, eine Strichfassung erstellen, Elemente umgruppieren, und Josef Winkler wird ein Fein-Tuning am Text vornehmen.
Ist es möglich, den Inhalt kurz zu umreißen? Gibt es Aspekte, die Sie besonders faszinieren und interessieren?
SoS: Der Arbeitstitel lautet ›Specter of the Gardenia‹ nach einer Skulptur des surrealistischen Künstlers Marcel Jean. »Specter« heißt übersetzt »Schreckbilder«. Diese Skulptur stellt einen kleinen schwarzen Kopf mit geschlossenen Reißverschlussaugen und einer um den Hals gewickelten Filmrolle dar. In Josefs Text steht ein Ich-Erzähler im Museum of Modern Art in New York vor dieser Skulptur, öffnet die Reißverschlussaugen und sieht gleichzeitig Bilder seiner Kindheit und unserer gegenwärtigen Welt. Beide Felder, für die Josef Winkler bekannt ist – seine politischen Reaktionen auf die Gegenwart und die Rückkehr zu einer alptraumhaften Kindheit in Österreich, sind also im Text zu finden. Es gibt lyrische Passagen wie zum Beispiel »AUF die Welle des Schüttelfrosts am Fell eines Igels SCHREIB ICH DEINEN NAMEN« – in einer frühen Fassung der erste Satz des Textes –, ein dramatischer Moment, voller Verzweiflung, aber auch voller Sehnsucht. Solche stark verdichteten lyrischen Bilder geben in ihrer Gesamtheit eine Stimmung wieder. Gerade am Anfang kommen immer wieder endzeitliche Worte oder Stimmungen vor, z.B. Brösel, gespalten, ausgerissen, Unterseite, sinkend, letzter, erster, Tiefe, Eis, Nacht – Lyrik, die sich nicht ausbuchstabieren lässt, sondern die in sich eine Kraft hat! Daneben gibt es auch ganz klar erzählte Passagen mit den ziemlich irren Bildern aus der Kindheit und einen dritten Textteil, den wir »die Weltklage« nennen; eine surreale Weltbeschreibung, ein Blick in die gegenwärtige Welt, z.B. »Ihr Erdöl-Gesellschaft, Ihr Aufpasser unserer Tragödie!«.
JMS: Josef Winkler bezieht sich auf bestimmte Vorbilder aus der surrealistischen Literatur und deren Vorläufer wie Paul Éluard, Benjamin Péret oder Lautréamont, hat dies aber in einer ganz eigenständigen Art und Weise weiterentwickelt, amalgamiert.
Wie können wir uns die Zusammenarbeit zwischen Ihnen Dreien als Team – Komponist, Autor, Regisseurin – vorstellen? Wann beginnt die Regiearbeit bzw. wie verläuft der Schritt zur Inszenierung?
SoS: Der aufregendste Teil steht uns erst noch bevor, wenn wir schauen, wie das alles zusammenpassen könnte. Die Abfolge ist so: Josef Winkler hat seinen Text relativ weit entworfen, dann hat Johannes seine Musik geschrieben und ich reagiere als Letzte darauf. Andererseits treffen wir uns immer wieder, tauschen uns über Ideen aus, damit alles enger verzahnt ist. Gleichzeitig arbeitet aber jeder autonom. So ähnlich wie die Instrumentalmusik von dem Text inspiriert ist, ist auch die visuelle Ebene, die mein Regieteam und ich planen, inspiriert von dem Text und bildet eine Art komplementäre oder analoge Ebene.
JMS: Auch in der Musik ging es nicht um eine »Vertonung«. Ich bin so vorgegangen: Ich habe alle Textfassungen von Josef Winkler wieder und wieder gelesen, sie dann weggelegt, eine Art Inkubationszeit abgewartet. Dann habe ich versucht, eine Instrumentalmusik zu schreiben, die sehr mitinspiriert ist von diesen Sprachbildfeldern, von diesen aphoristische vokativen Dingen. Eigentlich habe ich zwei Stücke geschrieben: das reine, dreisätzige, etwa halbstündige Ensemblewerk ›Auf die Stimme der weißen Kreide (Specter I–III)‹ für das Ensemble Modern und das Werk für die Bühne ›Specter of the Gardenia oder der Tag wird kommen‹. Ich habe immer wieder Bühnenbildentwürfe, Fotos und Assoziationsbilder von Sofia Simitzis erhalten und gemerkt, dass sie den Text als Grundlage ihrer eigenen Deutung nimmt. Ich war vielleicht oft nicht sehr kommunikativ – aber das haben Komponisten während intensiver Arbeitsphasen so an sich –, habe aber alles aufgenommen, was von Sofias Seite kam. Uns allen war von Anfang an klar, dass der gesamte Abend viel mehr sein sollte als die Addition der Einzelteile. Ich würde sagen, bei so einer Zusammenarbeit ist der Text die Grundlage, da er das Thema des Abends grundiert und uns alle inspiriert. Als Zweites kommt die Musik, die darauf Bezug nimmt und die Semantik des Textes in eine andere Sphäre entführt. Die Szene, das Bild, die Inszenierung von Sofia eröffnet dann oft unerwartete Bedeutungsspielräume und verknüpft die Teile zu einer wild zerklüfteten Einheit, die wie eine fremde Gebirgslandschaft in einem unbekannten Licht erstrahlt. Man ist jedenfalls in einem ziemlich vielfältigen Spannungsfeld eingewoben.
Können Sie denn schon mehr zur Inszenierung verraten?
SoS: Was wir natürlich schon festgelegt haben, ist der Raum. Genauso wie ich mich von der schon vorhandenen Musik und dem Text inspirieren lasse, habe ich Bilder gesammelt, die aber noch variabel sind. Es ist wie ein kleines Materiallager, aus dem ich dann meine Karten schneller spielen kann. Das Ganze ist eine installative Konzertperformance und wir sehen im weiteren Sinn einen »Specter«, eine Schreckbildmaschine oder »Weltmaschine« mit 1000 Augen, aus der Bilder wahnsinnig in alle Richtungen herausquellen. Das können Videos sein, aber auch Figuren, Objekte, Live-Aktionen. Dieser »Specter« hat natürlich auch eine eigene Dynamik von übervoll bis Schwarzbild oder kein Bild; es gibt klein teilige oder große Bilder, Solo- oder Tutti- Bilder, wimpernschlagkurz oder tagtraumlang. Die Bilder sind strukturell und inhaltlich getriggert aus dem Text. Und es gibt eine gewisse Leichtigkeit, Humor, Absurdität in der Härte und Schwärze, die auf jeden Fall auch im Text vorhanden ist.
JMS: Der Text wird in seiner Chronologie noch aufgebrochen, auf den Kopf gestellt. Es gibt Teile, wo die Musik alles an sich reißen wird, und es gibt Teile, wo der Text dominiert. Alle drei Teile (die visuelle Ebene, die Musik, der Text) drängen sich ab und zu in den Vordergrund und lassen dann wieder die anderen vor, vergleichbar mit einer Jazz-Combo, wo alle mal ihr Solo haben und dieses auch formal ausarten kann. Der Abend ist keine apollinische Schönheitsstudie, sondern soll eine gewisse Unerwartbarkeit für die Zuhörer mitbringen ...
SoS: ... und Wahnsinn!
Herr Staud, ich würde gerne nochmals auf die Beziehung zwischen Ihrem Instrumentalstück und dem Werk für die Bühne zurückkommen. Wie ist der Text bei der szenischen Aufführung in die Musik eingebunden?
JMS: Das reine Ensemblewerk wird nach einer eigenen, musikimmanenten, aber vom Text inspirierten Dramaturgie entstehen. Für den szenischen Abend breche ich die Ensemblemusik auf, füge Inseln hinzu, durchlüfte einzelne Teile und werde vor allem Kammermusik und Solopassagen dazu komponieren, da ja auch Bild, Szene und Text dazukommen. Ich möchte nicht, mein Ensemble-Stück 1:1 abspielen; das würde auch dem speziellen Geist der Zusammenarbeit widersprechen. Ich kenne das Ensemble Modern sehr gut, d. h. in der abendfüllenden Bühnenfassung wird die Tür zu mehr Solomusik aufgemacht: die Mitglieder gesellen sich auch zum Text oder zum Schauspieler und es wird intimer. Die reine Ensemble-Musik ist relativ massiv und komplex in ihrer Textur. Es gibt eigentlich vier Zustände: Text und Musik sind gleichberechtigt, die Musik ist unbegleitet, der Text ist unbegleitet, aber auch Text mit Musik im Hintergrund, wie ein Accompagnato-Rezitativ. Es soll durchaus eine Multiperspektivik geben, das ist mein Traum eines Kunstwerks: ein Kunstwerk, das man mehrmals hören und sehen kann, um immer wieder auf neue Details zu achten, die man beim ersten Mal übergangen hat. Es ist eine echte Bildermaschine, die einen ein bisschen über- fordert, weil sehr viel gleichzeitig passiert. Genau das gefällt mir!