Die Donaueschinger Musiktage 2014

Ein Gespräch mit Armin Köhler

»... ›und‹ ...« lautet das Motto der Donaueschinger Musiktage 2014, die sich in diesem Jahr auf Komponisten konzentrieren, die über ihr musikalisches Tun hinaus auch in anderen Metiers tätig sind und von diesen Wechselbeziehungen der Disziplinen profitieren: Uraufführungen von Peter Ablinger, Brian Ferneyhough und Kryštof Mařatka stehen auf dem Programm des Ensemble Modern Orchestra am 19. Oktober 2014 in den Donauhallen. Das Ensemble Modern hat dieses Projekt zum Anlass genommen, mit dem Festivalleiter Armin Köhler über die diesjährigen Donaueschinger Musiktage, aber auch über seine nunmehr über 20 Jahre währende Tätigkeit als Festivalleiter und die Zukunft der Donaueschinger Musiktage zu sprechen. Armin Köhler ist seit 1992 Redaktionsleiter für Neue Musik beim SWR und verantwortlich für die Donaueschinger Musiktage. Zuvor war er – nach Studien an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden und der Leipziger Universität – ab 1980 beim Musikverlag Edition Peters in Leipzig als Entwicklungslektor und Leiter der Spezialabteilung für Neue Musik in Dresden und ab 1990 als Redakteur beim Deutschen Fernsehfunk tätig.

EM: Sie sind in der DDR aufgewachsen, haben dort in Dresden und Leipzig gewirkt. Was kannten Sie zu dieser Zeit von den Donaueschinger Musiktagen? Wie war das Zusammenkommen?

AK: Ich kannte alles, was über die bundesdeutschen Medien vermittelt wurde – und das war eine ganze Menge. Zudem arbeitete ich als Entwicklungslektor beim Peters Verlag in Leipzig und betreute dort die Orchestermusik. Ich war zuständig für die Druck- und Leiherzeugnisse im Bereich der Neuen Musik: Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Ruth Zechlin, Jörg Herchet. Letzterer wurde in jener Zeit mehrfach in Donaueschingen uraufgeführt; als Verleger hatte ich somit einen sehr engen Kontakt mit den Festivalmachern in Donaueschingen. Informiert war ich mithin sehr gut, aber ich durfte nicht reisen. Deshalb war Donaueschingen für mich ein großer Sehnsuchtsort, wie Darmstadt auch. Als just an meinem 38. Geburtstag das Angebot vom SWR kam, war das, als würde sich der Himmel öffnen. Natürlich habe ich das Angebot angenommen und losgelegt mit einer – zurückblickend – erschreckenden, aber damals wunderschönen Naivität. Die Welt, auf die ich stieß, war eine ganz andere als die, die ich erwartet hatte. Denn in der DDR gab es eine verschworene Neue Musik-Gemeinschaft v.a. all jener Komponisten, die wir bei Peters in der sogenannten ›Blauen Reihe‹ verlegt haben. In der alten Bundesrepublik hingegen war das Musikleben ganz breit aufgesplittet. Ich musste feststellen, dass es keine große gemeinschaftliche Szene gab, sondern hart gegeneinander gearbeitet wurde. Aus ästhetischer Sicht begann sich zudem in jenen frühen 1990er Jahren der auch von mir favorisierte Avantgarde-Begriff aufzulösen, wodurch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (auch) durch die Digitalisierung der Gesellschaft einen intensiven Schub erhielt.

EM: Sie treten in einer ganz besonderen »genealogischen« Reihenfolge auf und sind länger Intendant der Donaueschinger Musiktage als alle Ihre Vorgänger. Wo liegen für Sie die Schwerpunkte in der Zeit deiner Intendanz?

AK: Das war ein Prozess, der sich auf vielen Ebenen vollzog. Eine dieser Ebenen ist die Aufsplittung des Musiklebens und aktuellen Musikdenkens in viele gleichwertig nebeneinander laufende Stränge. Zudem fiel in diese Zeit der frühen 1990er Jahre die mediale Revolution. Damals war der Computer als allgemeines Arbeitsmittel in den Anfängen, 1998/99 begannen wir mit dem Internet zu arbeiten. Es kristallisierte sich eine vollkommen neue mediale Situation heraus, was nicht ohne Einfluss auf das Festivalgeschehen bleiben konnte. Die Donaueschinger Musiktage haben viele Facetten. Eine ist ihr Messecharakter. Ohne diesen zu zerstören, kam es mir immer darauf an, musikalische Formen zu integrieren, die sich zwischen den bekannten festgefügten Begriffen wie zum Beispiel »Konzert« und »Installation« bewegen. In Ermangelung eines besseren Begriffes bezeichne ich diese einstweilen als »Konzertinstallationen« oder »Installationskonzerte«. Das reine Nummernprogramm konnte jedenfalls unter diesen Bedingungen kein alleiniges Erfolgsrezept für die Festivaldramaturgie mehr sein – auch nicht bei einer solchen Messe des Neuen. Wichtig ist es mir zudem, den Begriff »Festival« ernst zu nehmen. Donaueschingen soll ein Fest sein; ein Fest aller Sinne, mit ganzheitlichen Erfahrungen, die das Hören, Lauschen, Sehen, die Räume, den Körper, die Aura, die spezielle Situation bewusst mit integrieren und den Festivalbesuchern bewusst machen, dass es hier nicht darum gehen kann, in Form neuester Kompositionen Objekte zu präsentieren, die es dann nach unterschiedlichen Kriterien zu sortieren gilt (die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen), sondern dass es viel wichtiger ist, Fragen zu stellen. Fragen an die Kunst, die Gesellschaft und an jeden von uns selbst. Das reine additive Konzertereignis vermag dies allein nicht zu bewältigen. Hilfreich dabei sein kann zudem die Fokussierung auf bestimmte thematische Klammern. Sie dienen der Konzentration und der Orientierung. Man denke an die ›Ensembliade‹ im Jahre 2008 mit Ihnen, dem Ensemble Intercontemporain und dem Klangforum Wien. In jenem Jahr setzte ich innerhalb dieses Autorenfestivals den Fokus auf die Interpretation und akzentuierte diesen durch eine neue Präsentationsform der »Doppeluraufführung«.
Hinter der kleinen Präposition »und« verbirgt sich auch in diesem Jahr wieder ein thematischer Akzent. Eingeladen wurden Autoren, die über ihr musikalisches Tun hinaus gleichwertig auch in anderen Metiers agieren, in der bildenden Kunst, Poesie, Film, Video oder Essayistik. Im Zentrum stehen dabei nicht etwa die allbekannten multimedialen Mischformen, sondern jedes Metier bleibt autonom. Es wird Lesungen geben, Filme und eine große Kunstausstellung. »und« ist ein Zitat von Kandinsky, der 1928 einen gleichnamigen Essay geschrieben hat, in dem er das 19. Jahrhundert als ein Jahrhundert der Aufsplittung, der Zergliederung der Künste beschreibt und das 20. Jahrhundert dagegen als jenes des »und«, der Zusammenführung, der Integration der Künste. Dahinter verbirgt sich die Frage nach dem Spezialistentum unserer Zeit: Wie äußert sich Kunstwollen? Wie materialisiert es sich und in welchem Medium findet es Ausdruck? Welchem Wandel unterliegt es innerhalb eines Künstlerlebens? Ist Kunstausübung immer gebunden an Spezialisierung? Wer ist Spezialist, wer Dilettant? Müssen wir in unseren Nischen verharren? Wann münden Ideen in ein Konzert, wann in eine Ausstellung oder Lesung? Für mich persönlich ist das Festival schon dann ein Erfolg, wenn unsere Gäste mit der Frage nach Hause gehen, wie eingeschränkt unsere Kunstsicht doch ist, wenn wir Wirklichkeit einzig aus unserem Nischendasein betrachten und bewerten.

EM: Wie sieht das bei unserem Konzert aus?

AK: Zum Beispiel Peter Ablinger. Er ist auch ein großartiger Zeichner und Fotograf, dessen Arbeiten ebenso in der Ausstellung bildender Kunst bei den Musiktagen gezeigt werden. Seine künstlerischen Ideen müssen sich nicht ausschließlich in Klang materialisieren – sind doch seine Ideen konzeptuell so abstrakt angelegt, dass sie sich in verschiedenen Daseinsformen offenbaren können. Das neue Stück für Ihr Ensemble materialsiert sich im ersten Satz als große gerasterte Fotografie von 12 x 12 m, die im Foyer der Donauhallen hängen wird, und im zweiten Satz als Klang, als Musikstück. Es kreist thematisch um das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrnehmung. Kunst als spektrale Rasterung von Wirklichkeit. In der Komposition werden Sprachfetzen, Schallplattengeräusche, Tonbandrauschen oder das Summen von elektronischen Abspielgeräten ein zentrales konstituierendes Element sein. Sie bilden eine Art elektronische Grundlage, aus der dann Klänge gefiltert werden. Kryštof Mařatka ist auch ein sehr guter Filmemacher und Brian Ferneyhough ein ausgezeichneter bildender Künstler und hervorragender Poet. Er wird über das Stück hinaus auch mit autonomen Lesungen und in der Ausstellung vertreten sein.

EM: Es ist natürlich interessant, dass viele der großen Komponistenbegabungen auch in anderen Bereichen herausragende Stärken haben und damit nicht nur Spezialisten sind, sondern Multitalente, Allrounder. Sehen Sie das übertragbar auf den Musiker oder den Klangkörper im Allgemeinen?

AK: Wir leben in einer absolut paradoxen Situation. Auf der einen Seite nimmt die Spezialisierung durch den Computer immer weiter zu. Auf der anderen ist der Computer ein wunderbares Transpositionsgerät, mit dem Ideen relativ leicht in unterschiedliche Künste transferiert werden können. Theoretisch ist er damit ein Instrument, das Kunstgrenzen aufzulösen vermag. Musikmachen im Allgemeinen setzt jedoch einen besonders hohen Grad an Spezialistentum voraus. Denn nur diese hohe Spezialisierung ist ein Garant für hohe Qualität. In der Neuen Musik werden aber vom Interpreten immer häufiger Dinge abverlangt, die weit über seine spezielle Ausbildung am Instrument hinausgehen. Als Beispiel unserer Zusammenarbeit sei die Komposition ›felt | ebb | thus | brink | here | array | telling‹ von Benedict Mason genannt, die das Ensemble Modern 2004 als einen der Höhepunkte der Donaueschinger Musiktage uraufgeführt hat. Jeder der Spieler musste mindestens vier weitere Instrumente spielen und sich künstlerisch im Raum bewegen. Ein Maßstäbe setzendes Stück und Interpretation auch im Sinne der Auflösung des Spezialisten-Daseins.

EM: Ist der Intendant der Donaueschinger Musiktage frei in der
Programmgestaltung oder gibt es ein Kuratorium?

AK: Das ist so eine Frage mit der Freiheit. Wer ist schon frei? Formal gesehen liegt die Entscheidungshoheit allein in meiner Hand. Es gibt aber genügend Abhängigkeiten und Zwänge, die kulturpolitisch und psychologisch immer eine Herausforderung darstellen. So wird beispielsweise der Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters, das zwei wichtige Konzerte des Festivals bestückt, immer in die Programmgestaltung involviert. Diese produktive Auseinandersetzung führte bislang immer zu interessanten Lösungen.

EM: Wenn Sie in den 1980er Jahren Intendant gewesen wären, wäre dann z.B. ein Hans Werner Henze gespielt worden?

AK: Donaueschingen ist in erster Linie ein Autorenfestival. Deshalb kann ich diese immer wiederkehrende Frage, ob ich den Komponisten X oder Y einlade oder nicht, sehr gut verstehen. Das ist aber nicht der zentrale Punkt. Letztendlich geht es nicht um Komponistennamen, sondern um bestimmte und zwar grundsätzliche, aktuelle ästhetische Haltungen. Diese lassen sich nicht an bestimmten Namen festmachen. Sie stehen beispielhaft für eine Haltung, von der ich überzeugt bin, dass sie tiefgreifende musikalische, ästhetische und politische Fragen aufwirft. Dabei interessieren mich Positionen, die explizit auf das Wahrnehmen zielen. Eine Konzentration auf die Produktionsästhetik, wie bis zum Ende der 1980er Jahre geschehen, entspricht nur noch bedingt der gesellschaftlichen Realität. Dazu gehört es angesichts des allgegenwärtigen Technologiewahns auch, einen kühlen Kopf zu bewahren, um die Verwendung neuer Technologien nicht a priori mit einer neuen ästhetischen Haltung gleichzusetzen, wie es allzu häufig noch immer getan wird. Die Frage ist doch welcher grundsätzliche Musikbegriff sich jeweils dahinter verbirgt. Wir kennen ihn alle, diesen mittlerweile zum Marketinginstrument degenerierten Begriff vom »Grenzen sprengen«. Ich würde dennoch an ihm festhalten. Denn Grenzen bilden sich in jeder Generation, in jeder Zeit immer wieder aufs Neue aus. Wir nennen das dann Zeitgeist. Und Zeitgeist ist etwas, das wir als Künstler sehr kritisch hinterfragen sollten. Gewiss: wir alle sind vom Zeitgeist geprägt und getragen. Aber wir wissen als Dialektiker auch um die Problematik alles Zeitgeistigen. Der Zeitgeist führt zu Verkrustungen, die es bei solchen Festivals wie den Donaueschinger Musiktagen aufzulösen gilt.

EM: Wie sieht die Zukunft der Donaueschinger Musiktage aus?

AK: Ich werde ja in absehbarer Zeit meinen Ruhestand antreten. In einer Zeit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in der künstlerisch unendlich viel möglich ist, wird vieles von der Persönlichkeit abhängen, die die Leitung übernehmen wird. Nicht von ungefähr haben die Kuratoren in der bildenden Kunst aktuell so eine besondere Bedeutung. Aufgrund der potentiellen Vielfalt ist eine Persönlichkeit gefragt, die in der Lage ist, eigene Akzente zu setzen. Sie muss auch den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen.

EM: Wo geht die Entwicklung in der Neuen Musik insgesamt Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren hin?

AK: Das ist schwer zu beantworten. Man muss kein Prophet sein, um zu ahnen, dass die neuen Technologien künstlerische Möglichkeiten öffnen, von denen wir noch nicht einmal zu träumen vermögen. Bis diese technischen Potenziale aber eigene ästhetische Kriterien ausgeprägt haben, wird noch eine gewisse Zeit vergehen. Das wird so weit gehen, dass nicht nur die Künste stärker zusammenwachsen werden, sondern sich auch ein neuer Typus von Künstler herausbilden wird. Ich bin mir aber auch sicher, dass die Autonomie der Künste weiterhin ihre Berechtigung haben wird, und dass entgegen aller Unkenrufe solch historisch gewachsene Kulturgüter wie ein Konzertsaal und eine autonome musikalische Komposition auch in Zukunft eine starke Anziehungskraft haben werden.