Taiwan - In Kreativität und Bildung investieren

Interview mit Karsten Witt

Ende März bricht das Ensemble Modern zum Contemporary Music Festival in Taipei auf, das es zwei Wochen mit Konzerten und Workshops gestaltet. Über dieses spannende, neuartige Projekt sprachen Christiane Engelbrecht, Roland Diry und Susanne Tegebauer mit Karsten Witt, ehemaliger Geschäftsführer des EM und nun Vermittler zwischen asiatischer und westlicher Musikkultur.

Ensemble Modern: Wie sieht die (Neue-)Musik-Szene in Taiwan überhaupt aus?
Karsten Witt: Die klassische abendländische Musik führt in Asien - immer mit Ausnahme von Japan, wo die aktuelle zeitgenössische Kunst mit westlich-beeinflusster doch weitgehend identisch ist, - ein absolutes Nischendasein. Es gibt ein paar Zentren, wo klassische Musik eine Rolle spielt wie etwa Hongkong, Seoul oder auch Taipei. Trotzdem wird dort praktisch das gesamte Festivalprogramm - inklusive Varèses "Amériques" - zum ersten Mal zu hören sein. Ansonsten ist Klassik häufig gleichbedeutend mit "Corporate Event". Projekte, die aus Europa und den USA nach Asien kommen, sind so teuer, dass sie nur veranstaltet werden können, wenn Sponsoren dahinter stehen. Dies liegt an den langen Wegen zwischen möglichen Spielorten, die die Reisekosten enorm in die Höhe treiben und dazu führen, dass die Konzerte nicht unmittelbar hintereinander veranstaltet werden können. Zum Glück gibt es in allen asiatischen Ländern eine im Bewusstsein sehr stark verankerte eigene Kultur.

Wie sieht nun konkret die Lage in Taipei bzw. Taiwan aus?
Taipei ist nicht mit großen internationalen Budgets gesegnet, da das Geld nach China fließt, auch wenn es kulturell gesehen in Taipei vielleicht sinnvoller angelegt wäre. In Taiwan gibt es Konservatorien, Musikhochschulen, Orchester, darunter das sehr gute National Symphony Orchestra (NSO), mit dem das EM ja gleich zur Eröffnung gemeinsam auftritt, und es gibt natürlich auch Komponisten. Wir finden hier auch ein beachtliches junges Publikum für klassische Musik, das aus Leuten besteht, die zum großen Teil selbst Musikinstrumente gelernt haben. Aber eine Neue-Musik-Szene im eigentlichen Sinne gibt es überhaupt nicht.

Inwieweit spielt denn die klassische Musik in der Ausbildung an der Musikhochschule eine Rolle?
In der Komponistenklasse der National University of the Arts in Taipei gibt es 30 Studierende, und mit Hwang-Long Pan steht ein ständig zwischen Ost und West pendelnder Komponist an der Spitze der Fakultät, aber im Ergebnis, nämlich im Musikleben, spielt sie überhaupt keine Rolle. Westliche Kompositionstechniken stellen nur einen Teil der Ausbildung dar. Die Komponisten sind von ihrer eigenen chinesischen Musik stark inspiriert und arbeiten auch mit den traditionellen Instrumenten. Namen wie Ligeti und Stockhausen sind selbstverständlich auch in Taipei nicht völlig unbekannt, aber letztlich setzen sich auch an unseren Hochschulen nicht sehr viele Studenten mit diesen Komponisten auseinander.

Seit wann existiert das Contemporary Music Festival in Taipei?
Wir starten das Festival in diesem Jahr. Nachdem uns nur wenig Vorbereitungszeit blieb, entschlossen wir uns, das EM als Ensemble in Residenz einzuladen. Es ist als Biennale geplant, in 2005 soll es eine Fortsetzung geben, dann mit unterschiedlichen Ensembles. Voraussetzung ist allerdings ein Erfolg in diesem Jahr, der wie überall anderswo auf der Welt auch an den verkauften Karten gemessen werden wird. Dieses Festival in Taipei ist das erste Festival überhaupt in ganz Asien, das ausschließlich Neue Musik präsentiert. Bislang gibt es das sehr breit gefächerte Hongkong Arts Festival sowie seit kurzem das eher klassisch ausgerichtete Festival im südkoreanischen Tongyeong, dem Geburtsort von Isang Yun - das EM wird ja im März dort sein.

Das Festival stellt also ein ziemliches Wagnis dar...
Nun, es geht auf die ganz persönliche Initiative des neuen künstlerischen Leiters des National Chiang Kai-Shek Cultural Center in Taipei, Tzong-Ching Ju, zurück, der selbst Schlagzeuger und in der Musik des 20. Jahrhunderts zuhause ist. Dabei verfolgt er den Gedanken, dass die Menschen in Taiwan darüber informiert werden müssen, welche Vielfalt an Musik heutzutage in der Welt entsteht.
Daneben gibt es zwei weitere, für das Festival wichtige Personen: Das sind der schon erwähnte Komponist Lang-Hwong Pan, übrigens ein Schüler von Lachenmann und Yun, und Wen-Pin Chien, der junge chinesische Chefdirigent des NSO, der auch Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf ist. Aber beim Publikum darf man überhaupt keine Kenntnisse voraussetzen.

Weißt du denn, wie das Publikum überhaupt zu diesem Festival bewegt werden soll?
Alle dort betreten absolutes Neuland - das Publikum genauso wie die Organisatoren. Ich als Partner von Shaksfin Productions, übrigens die einzige internationale Agentur zwischen Europa und Japan und somit eine Art "Brücke" zwischen Ost und West, bin nicht nur als Vermittler beschäftigt, sondern ich bin dort quasi als umfassender Berater für sämtliche Aspekte engagiert, um das neue Festival zu etablieren. Ich habe die Hoffnung, dass sich die Zuhörer im Laufe dieser Festivalwoche für die Virtuosität und Spielfreude des EM begeistern und zu echten Fans werden. Wir wollen auch über außermusikalische Eindrücke Verständnismöglichkeiten bieten, etwa durch die Verbindung mit Theater bei Heiner Goebbels und Film bei Benedict Mason. Steve Reich oder Conlon Nancarrow sollten unmittelbar zugänglich sein.

So wie du das alles schilderst, bedarf es doch eines sehr umfangreichen, das Festival begleitenden Informationsprogramms.
Ja, und deswegen haben wir eine junge chinesische Dramaturgin gefunden, die ein für die Vermittlung entscheidendes Programmbuch aufbereiten wird - so wie bei hiesigen Festivals auch. Dann werden vor jedem Konzert Gespräche mit Komponisten, Dirigenten oder Musikern stattfinden. Die Dramaturgin und ich werden eine Art Fortsetzungsgespräch mit verschiedenen Künstlern führen, das es ermöglicht, auch auf vorangegangene Konzerte nochmals einzugehen. Und es gibt einen Workshop mit Helmut Lachenmann zu Webern op. 10. Im übrigen wird es eine sehr intensive Öffentlichkeitsarbeit geben.

Nun gibt es neben den Konzerten eben auch den von dir angesprochenen Workshop. Meinst Du, dass es leichter gelingen wird, die Studenten zu mobilisieren?
Wir wollen ganz klar das EM mit den Highlights seines Repertoires vorstellen. Aber damit das Ganze nicht in eine Einbahnstrasse führt, beginnen wir das Projekt mit einem dreitägigen Workshop für taiwanesische Komponisten und Kompositionsstudenten. In diesem Workshop werden gemeinsam mit Helmut Lachenmann und Hwang-Long Pan verschiedene Werke geprobt und diskutiert. Dadurch und durch ein gemeinsames Konzert mit dem NSO hoffen wir, die dort ansässige Szene besonders zu interessieren.

Mit welcher beruflichen Perspektive sitzen denn die 30 Studenten in der dortigen Kompositionsklasse?
Es gibt natürlich nicht nur das NSO sondern auch das National Chinese Orchestra, das mit traditionellen chinesischen Instrumenten arbeitet, chinesische Oper, Theatermusik, Film-Musik, das Fernsehen. Das ist also ähnlich wie bei uns, wo auch nicht sämtliche Kompositions-Studenten später ihr Geld mit Symphonien oder Ensemblestücken verdienen. Im Chiang Kai-Shek Cultural Center startete übrigens in der laufenden Saison auch eine Konzertreihe, die ausschließlich lokale zeitgenössische Komponisten vorstellt. Momentan werden in ganz Asien unglaubliche Summen in neue Infrastruktur für die Kultur investiert: In Singapore wurde gerade das Esplanade, ein Konzert- und Opernhaus, eröffnet; gleichzeitig wird ein neues Konservatorium gebaut. In Kuala Lumpur entstand ein neuer Konzertsaal und es wurde dort ein neues, sehr gutes Philharmonisches Orchester begründet. In Hongkong, wo 2002 die Weltmusiktage stattfanden, wird gerade das größte Kulturzentrum der Welt geplant und in Peking daraufhin ein noch größeres. In dieser Folge werden auch neue Arbeitsplätze für Komponisten entstehen.

Das hört sich nach ein paar Zentren an...
International gesehen schon. Daneben gibt es natürlich noch zahlreiche andere Städte, wo großes Interesse herrscht, wie in Macao, auf den Philippinen, in Bangkok, wo aber kein Budget für teure internationale Projekte vorhanden ist. Indonesien ist ein Gegenbeispiel: Dort gibt es viel Geld, aber keine Konzertsäle, so dass Veranstaltungen teilweise in Hotels stattfinden. Was letzten Endes in dieser gesamten Region so ermutigend ist, ist das unglaublich große Investment in Kunst und Kultur. Nachdem die asiatischen Tigerstaaten einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt haben, ist ihnen klar, dass sie in Kreativität und Bildung investieren müssen und das tun sie.

Ensemble Modern