Interview mit Péter Eötvös

Wolfgang Stryi befragte den Komponisten und Dirigenten Péter Eötvös, der im Juni die Tournee des EM mit Werken von Frank Zappa leiten wird, zu seinem Verständnis von Improvisation und Komposition.

Wolfgang Stryi: Welchen Stellenwert hat für dich die Improvisation bei deiner kompositorischen Arbeit?

Péter Eötvös: Den höchsten, weil für mich der Idealfall darin bestünde, dass das strukturierte Musikdenken - also die Musik, die man auf Papier befestigen muss, um sie an einen Interpreten weiterzugeben - mit der oralen Tradition gemischt würde. Das wäre die ideale Form.

Das heißt, so wie es tatsächlich in deinem Stück ›STEINE‹ passiert. In der ersten Hälfte ergeben sich die improvisatorischen Teile tatsächlich dadurch, dass immer einer dem nächsten etwas übergibt.

Ja, obwohl ›STEINE‹ gar nicht so frei ist. Das Stück ist viel begrenzter, viel enger festgelegt als du es jetzt darstellst. In ›STEINE‹ sind Aufgaben gestellt. Wenn eine Mischung bestünde zwischen kompositorischem und improvisatorischem Denken und diese Tradition weitergeführt würde, wäre dies für mich die ideale Zukunft. Doch im Moment ist das getrennt. Es gibt komponierte Musik und improvisierte Musik. Ich träumte eigentlich nur davon, wie es wäre, wenn ein Komponist mit einem Improvisator zusammenkäme.

Das heißt, du hast selber eigentlich nicht das Gefühl, auch nicht bei ›STEINE‹, dass du schon in der Lage bist so etwas auszufüllen - oder was ist dabei das Problem?

Die Schwierigkeit liegt eigentlich darin, dass die improvisierenden Musiker nicht die gleiche Ausbildung haben wie die Musiker, deren Ausbildung eine sehr große Präzision in der notierten Form ermöglicht ...

Absolut.

... und auch umgekehrt: die »Notenleser« sind improvisatorisch nicht ausgebildet. Es hängt nur von der eigenen Begabung ab, ob jemand fähig ist, beides zu praktizieren. Im Ensemble Modern sind einige, die das können. Aber das ist nicht die Regel.

Würdest du also z. B. beim nächsten Stück fürs Ensemble Modern gerne in diese Richtung weitergehen?

Gerne.

Dies wäre ja eine ganz andere Herangehensweise. Du könntest dir so etwas nicht am Schreibtisch ausdenken.

Der Komponist ist in diesem Fall der Ideengeber oder Impulsgeber oder derjenige, der das Ganze mit einem Blick zusammenfassen kann und außerdem berät. Eine derartige Produktion wäre dann eine Zusammenarbeit von einem Komponisten und von dem - nicht »ausführenden«, sondern - spielenden Musiker.

Damals im ZKM haben wir ja solistisch gearbeitet. Wir haben nach Klängen gesucht, denen wir uns auch improvisatorisch angenähert haben. Du hast etwas verbalisiert.

Richtig.

Ich persönlich habe dann versucht, dies als Bild aufzunehmen und annähernd das zu erreichen, was du gerne gewollt hast.

Da ist der Grad der Improvisation sehr begrenzt gewesen. Es ging um spezielle Aufgaben, um akustische Erforschungsmöglichkeiten. Ich kann mir vorstellen, dass man über Improvisation sprechen kann, wo es tatsächlich eine viel größere Spannbreite gibt, in der man handeln kann, dass ein Komponist z. B. einen harmonischen Aufbau vorschreibt, konstruiert, vorschlägt, und dieser harmonische Aufbau sichert den Ausführenden eine größere Form, einen harmonischen Ablauf, der eine durchgedachte Logik hat. So wie im Jazz. Das ist immer sehr hilfreich.

Das denke ich auch. Man kann sagen, es gibt den Begriff der gebundenen Improvisation, das sind äußere Grenzbereiche.

Das meine ich ja. Was dort passiert, kann sehr frei sein. Ich glaube, in der Barockmusikpraxis war das genauso.

Sehr gut, dass du das ansprichst. Das wäre auch meine Frage gewesen. Die alten Meister haben das früher ja tatsächlich alle gemacht.

Ja, das ist leider etwas verloren gegangen.

Wir wissen nicht, wie sie es gemacht haben ich habe es zumindest nirgendwo feststellen können. Es gibt ja keine Überlieferungen, ob sie wirklich zuerst verziert haben und daraus Improvisation über Harmonien entwickelt haben. Wie das dann letztendlich wurde, wissen wir leider nicht.

Stimmt.

Aber das Traurige ist tatsächlich, dass bis in die Romantik hinein das dann alles verschwunden ist. Man ist allmählich dazu gekommen, dem Interpreten zu sagen, was er zu tun hat.

Das hat mit der Anzahl der Musiker zu tun. Je mehr Musiker einbezogen wurden, um so weniger war ein improvisatorisches Zusammenspiel möglich. Dadurch, dass die Spätklassik und Romantik riesigen Orchesterformationen geschaffen haben, war es ganz logisch, dass die Improvisation verloren gegangen ist.

Ich dachte mehr daran, dass der Komponist mehr bestimmen will. Wenn du z. B. sagst, du willst improvisatorisch arbeiten, dann geht etwas verloren, auch etwas von dir selber.

Man könnte die Komponisten selbst als Improvisatoren betrachten, weil alles, was sie »erfinden«, letztendlich aus dem selben Impuls heraus entsteht wie die Improvisation bei den Musikern.

Ich glaube auch, dass hier noch einiges passieren wird, weil die Jazzszene, die du vorhin angesprochen hast, stagniert. Von dort gehen keine Impulse mehr aus. Das ist vorbei. Die Jazzmusiker tendieren eher dazu, Kontakt mit uns aufzunehmen. Das heißt, da gibt es plötzlich einen Kreuzungspunkt...

Ich komme selbst aus der »klassischen Tradition« und tendiere zum Jazz.

Aber während deiner Zeit mit Stockhausen habt ihr doch bestimmt auch improvisiert?

Er mochte den Begriff »Improvisation« nicht, da er nicht wollte, dass man »irgend etwas« aus der Luft holt und in die Komposition hineinwirft. Das hat ihn überhaupt nicht interessiert. Wenn wir die Parameterstücke wie ›SPIRAL‹, ›POLE‹, ›EXPO‹, ›KURZWELLEN‹, ›PROZESSION‹ gespielt haben, war sein Wunsch, dass wir nur die Plus-Minus-Zeichen ausführen - so präzise wie möglich und natürlich mit Phantasie und Klangsinn. Wenn man den ersten Ton gehört oder erzeugt hat, begann sofort die Ausarbeitung: plus, also lauter, höher, schneller, oder minus, also leiser, tiefer, langsamer, weniger Glieder und so weiter.

Daran erinnere ich mich auch. Unsere Arbeit mit ihm war im Prinzip genauso. Habt ihr das nicht gemeinsam erfunden?

Wir waren keine Improvisatoren, wir spielten aus Noten. Bei den Proben hörten wir oft : ... »Mensch, das steht doch gar nicht da!«, und die Musiker - besonders am Anfang, wenn man noch nicht genau aufgefasst hatte, was er wollte - guckten sich nur gegenseitig an: »Was meint er?« Da standen nämlich keine Töne, sondern Zeichen, aber gerade darum ging es! Ein Zeichen war bereits ein komplexes Klanggebilde. Nur jetzt mit viel Abstand verstehe ich genau, was er wollte. Es war für ihn damals eine wichtige Entwicklungsphase und für mich eine sehr wichtige Lernphase.

Hat er eigentlich irgendwann den Begriff »Aleatorisch« verwendet oder mochte er den auch nicht?

Nur, wenn man z. B. eine Klangfläche bilden wollte, durften darin die Elemente aleatorisch vorkommen. Aber seine Stücke waren durchkomponiert. Selbst die Textstücke, wie ›AUS DEN SIEBEN TAGEN‹ waren stark festgelegt.

Und welchen Stellenwert hat Improvisation für deine Arbeit - für dich als Komponist?

Danach?

Nein, allgemein.

Bis Ende der 80er Jahre habe ich sehr konstruktiv komponiert. Die Webern-Analysen und die strenge Zahlenlogik von Bartók hat mich lange beeinflußt. In dieser Periode sind einige wichtige Kompositionen entstanden, wie ›CHINESE OPERA‹, oder die ›WINDSEQUENZEN‹, die sehr streng konstruiert sind. Am Anfang der 90er Jahre habe ich bemerkt, dass ich nie zu einem größeren Format komme, wenn ich so weitermache. Bis dahin hatte ich noch kein Orchesterstück, keine Oper geschrieben. Ich habe angefangen »improvisierend« zu komponieren und alles aufgeschrieben, behalten, was mir gefiel und weggeworfen, was ich nicht mochte. Ich fühlte mich freier, bis ich wieder merkte, dass ich in der Konstruktion mich noch freier fühle. Ich habe im Moment, denke ich, eine gute Mischung und einen guten Balance zwischen Konstruktion und Improvisation erreicht. Diese Phase wäre nie möglich gewesen, wenn ich nicht eine strenge konstruktive Trainingsperiode hinter mir hätte.

Würdest du das auch den jungen Komponisten auf den Weg mitgeben? Als junger Komponist muss man beides üben, die Konstruktion und die Improvisation.

Ich glaube tatsächlich, dass wir heute - gerade durch die ganzen Computerprogramme - um Musik, egal aus welchem Bereich, zum Komponieren viel zur Verfügung haben: In kürzester Zeit können wir etwas aus der Komposition wieder streichen oder einfügen, oder Samples und anderes einsetzen. Da kann eine ganz neue Geschichte entstehen - ohne das Wissen um barocke Techniken und die ganze Musikästhetik. Das wird ziemlich spannend werden.
Das Leben ändert jeden Tag ein bisschen an meiner Denkmethode. Bei mir sind in der letzten Zeit sehr merkwürdig farbige Stücke entstanden, auch neue musiktheatralische Formen. Die dazu nötige Phantasie kommt aus meinem doppelten Training: Konstruieren und Improvisieren. Und aus der vielseitigen Erfahrung mit Musikern, mit Schauspielern, mit Orchestern, mit Publikum, mit Elektronik und mit Akustik umzugehen.

Na, da freue ich mich auf das nächste Stück, was wir zusammen machen. Ich werde darauf drängen, dass es eine Improvisation sein wird.

Ja, eine konstruierte.