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Stephan Buchberger im Gespräch mit Mark Andre

Im Mai 2022 wird der Zyklus ›rwḥ‹ von Mark Andre durch sechs hannoversche Chöre und das Ensemble Modern im Rahmen der KunstFestSpiele Herrenhausen unter Leitung von Ingo Metzmacher im Kuppelsaal Hannover uraufgeführt und im Anschluss in der Elbphilharmonie Hamburg zu hören sein. Wie bereits in seinem 2008 durch das Ensemble Modern aufgeführten Stück ›üg‹ arbeitet Mark Andre auch hier mit »akustischen Fotos«, die Echografien genannt werden. Es sind akustische Reflexionen des Raums, die aufgenommen und gemessen werden. Verändert durch live-elektronische Verfahren werden diese kaum hörbaren Klänge den akustisch erzeugten Klängen zugespielt.

Stephan Buchberger, Dramaturg der KunstFestSpiele, sprach mit Mark Andre über dieses Verfahren, den thematischen Hintergrund des Stücks und die Gesamtgestalt des Zyklus.

Stephan Buchberger: 2018 bist du zu uns nach Hannover gekommen, um den Kuppelsaal anzuschauen und ihn zu echografieren. Was ist das und worum geht’s dabei?

Mark Andre: Echografie kommt aus der Welt der fundamentalen Physik. Man regt eine Raumzeit entweder mit analogen oder mit digitalen Impulsen an.

SB: Also mit Tönen, mit Klängen?

MA: Ja, mit einem sogenannten Sweep* in einem Spektrum zwischen 20 Hertz und 20.000 Hertz, das wir mit den Ohren und mit unserem Körper wahrnehmen können.

SB: Sind das Resonanzen, die im Raum entstehen – und die ihr aufnehmt?

MA: Genau. Es geht um die Untersuchung der akustischen Signatur des Raumes. Jeder Raum hat seine eigene akustische Signatur, er ist ein Instrument.

SB: Was bedeutet das für deinen Kompositionsprozess?

MA: Der kompositorische Ansatz bezieht sich auf die Untersuchung der akustischen Gestalt des Raumes. Die Antworten bzw. Resonanzen des Raumes wurden mit zwei Softwares ermittelt. Es ging dabei um die Suche nach einem Grundton, der sogenannten »fundamental detection«, und darum, durch verschiedene Verfahren Tonhöhen und rhythmische Patterns abzuleiten. Und es gab meine eigenen »Antennen« vor Ort, meine Ohren.

SB: Und das hat dann unmittelbare Auswirkung auf deine Arbeit, als Grundmaterial, aus dem du komponierst?

MA: Alle von den Vokalensembles und von den Kindern gesungenen Töne wie auch das instrumentale Material wurden mit dieser Methode entwickelt.

SB: Die Komposition hat vier Teile. Wie sind die einzelnen Teile gegeneinander charakterisiert?

MA: Ich hatte von Anfang an vor, einen Zyklus zu komponieren: Der erste Teil ist ein Instrumentalstück mit Elektronik – mit einer Aufstellung im Raum, das zweite Stück wird frontal von zwei Vokalensembles aufgeführt. Das dritte, kürzeste Stück ist rein instrumental. Und dann als Viertes die Totale mit den fünf Vokalensembles und den Instrumentalensembles.

SB: Vielleicht sprechen wir auch über den Titel ›rwḥ‹ (gesprochen: rúacḥ). Du hast mir hierzu ein Zitat aus dem Markus-Evangelium geschickt, wo es um den Heiligen Geist geht. Kannst du etwas zu diesem thematischen Hintergrund sagen?

MA: Der christlichen Überlieferung zufolge hat Jesus von Nazareth das Wort »Geist« auf Aramäisch mit »rwḥ« artikuliert, davon gibt es viele Spuren im Evangelium. Und das öffnet ein riesiges Wortfeld: Wind, Atem, Luft, Seele, Leben und Geist. Wichtig ist: Diese Begriffe sind alle untrennbar. Ich beziehe mich zum Beispiel auch auf eine Stelle im Johannes-Evangelium, wo es heißt: »Der Wind bläst, wo er will, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.« Man weiß nicht, ob etwas überhaupt stattfindet, während es gerade passiert. Das ist etwas ganz Zerbrechliches, Leises und Zartes, aber auch extrem Intensives.

SB: Du hast mir schon eine Skizze des aktuellen Stands der Komposition gezeigt. Mir ist aufgefallen, dass in den Chorstimmen nur zwei Vokale, nämlich a und o gesungen werden und du keinen Text verwendest. Das ist auch eine Referenz an ein anderes Stück von dir, deine Musiktheaterarbeit ›...22,13...‹, die sich auf eine Stelle aus der Offenbarung des Johannes bezieht. Was hat es damit auf sich?

MA: Ja, das bezieht sich in der Tat auf die Offenbarung, Kapitel 22, Vers 13, als Jesus von Nazareth sagt: »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.« Das scheint mir auch sehr zum erwähnten Wortfeld dazuzugehören, das A und das O.

SB: Jetzt kommt natürlich auch noch der Raum ins Spiel: die großen Entfernungen im Kuppelsaal und die räumlichen Konstellationen. Wir haben fünf Chorgruppen, die im Raum verteilt sind, und sieben Ensemble- Gruppen in unterschiedlichen Besetzungen. Was passiert, wenn das Material, das dir der Raum als Echo sozusagen bereitgestellt hat, wieder in diesen Raum hineingespielt wird? Das ergibt ja eine andere Art von »Rückkopplung«. Was passiert da für dich?

MA: Ja, darum geht es auch ein Stück weit. Eine Rückkopplung im Sinne eines Dialogs mit sich selbst. Das durfte ich schon mit ›üg‹ in der Hagia Irene in Istanbul erleben. Dort habe ich zum ersten Mal einen Raum echografiert und mit diesem kompositorischen Ansatz gearbeitetAllerdings ist die Ermittlung der Akustik eines Raums wie der Hagia Irene oder des Kuppelsaales immer nur eine Darstellung, eine Repräsentation des Raumes; der originale Raum ist viel komplexer als das, was man aufnimmt.

SB: Du sprichst ja auch oft von Zwischenräumen. Was bedeuten sie?

MA: Wenn man eine Antwort des Kuppelsaales ermittelt, mit derselbenSoftware, aber mit verschiedenen Parametrisierungen bekommt man vollends verschiedene Ergebnisse.

SB: Und mit Zwischenräumen meinst du das, was zwischen diesen Ergebnissen liegt?

MA: Ja, man hat es ja mit einem Artefakt zu tun. Das ist nicht unbedingt mein Thema, ich bin kein Wissenschaftler, ich bin Komponist. Mich interessiert aber besonders diese zerbrechliche Instabilität der Erkenntnis.

SB: Es gibt neben den instrumentalen Teilen und den Chorteilen auch noch eine elektronische Komponente, die du jetzt noch mit dem SWR Experimentalstudio in Freiburg erarbeitest. Vielleicht kannst du dazu noch etwas sagen?

MA: Wir arbeiten einerseits an verschiedenen Typologien von Klang- und Zeitgestaltung. Konkret zum Beispiel nutzen wir die Echografie der Akustik in Hannover, um Faltungen, Convolutions, zu machen. Das heißt, die Antworten, die wir in Hannover aufgenommen haben, werden erneut impulsiert und antworten ihrerseits. Aber es gibt keine Live-Transformation, auch keine Verstärkung. Alles wird mit Sound-Files gestaltet, die zugespielt werden. Zudem gibt es auch Aufnahmen des Windes, vom Atmen etc.

SB: Diese Ebene wird im Raum sehr weit oben sein. Es gibt ja eine Ordnung des Raumes von unten, wo die Bühne ist, über die erste Ebene, wo die Chöre sind, bis nach oben, wo die Elektronik ist. Spielt das eine Rolle für die Komposition, dass du vertikal in unterschiedlichen Ebenen denkst?

MA: Ja, das spielt eine ganz zentrale Rolle, weil es sich auf eine Art Aufhebung des Zeitklangkörpers bezieht, auf diese extrem instabile, körnige, granulierte Klanggestaltung, und wenn man das aus der Analogperspektive der Chöre und Ensembles im Raum beobachtet oder wahrnimmt und es dazu elektronisch ganz oben ausbreitet, dann wird damit auch noch eine andere Ebene des Materials entfaltet, aber auch sozusagen aufgehoben.

SB: Mit einer Entfaltung des Raumes am Ende. Ist das ein Ein- oder ein Ausatmen?

MA: Das ist eine ganz zentrale Frage. Aber ich lasse sowieso permanent und aus verschiedenen Gründen beim Ein- und Ausatmen die Musik und die Zeitklangräume im Prozess des Verschwindens beobachten. Und das ist kein psychologisches Verschwinden. Das bezieht sich direkt auf den Bericht vom Abendmahl in Emmaus: Als der Auferstandene erkannt wurde, verschwand er.

SB: Wir werden also unsere Ohren sehr spitzen müssen und versuchen, die Klanggestalten vor ihrem Verschwinden akustisch zu erwischen. Wir freuen uns alle sehr, dass wir mit deiner Komposition so ein riesiges Projekt tatsächlich in Hannover realisieren können. Danke sehr für das Gespräch!

MA: Herzlichen Dank euch allen für das Vertrauen und die Treue.

* Ein Sweep ist eine Wechselspannung konstanter Amplitude, deren Frequenz periodisch und stetig einen vorgegebenen Bereich durchläuft. Sweeps sind eine beliebte Methode in der Audio-Messtechnik.