Ich bin ein Komponist, der dirigiert

Ein Gespräch mit Sir George Benjamin

Sir George Benjamin ist nicht nur einer der renommiertesten Komponisten unserer Zeit, sondern auch ein hochgeschätzter Dirigent. Das Ensemble Modern blickt auf eine fast 30-jährige Zusammenarbeit und Freundschaft mit dem gebürtigen Briten zurück. Im März 2019 dirigiert er das Ensemble Modern und das auf Orchestergröße erweiterte Ensemble Modern Orchestra in insgesamt sieben Konzerten in Frankfurt am Main, London, Köln und Hamburg; darunter auch seine beiden eigenen Werke ›Into the Little Hill‹ und ›Palimpsests‹. Was Sir George Benjamin über ›Palimpsests‹ für großes Orchester sagt, lässt sich auf sein gesamtes Werk übertragen: Er möchte aus dem Orchester, der »Masse an Holz und Blech, eine kristallin-transparente, zauberhafte, gleichzeitig unromantische und doch leidenschaftliche Musik« hervorbringen. Christian Fausch, Künstlerischer Manager und Geschäftsführer des Ensemble Modern, sprach mit ihm über die bevorstehende Tournee und deren Programme sowie über seine Doppelrolle als Komponist und Dirigent.


Die bevorstehende Zusammenarbeit ist die erste zwischen dir und dem Ensemble Modern seit acht Jahren, aber dich und das Ensemble verbindet eine lange gemeinsame Geschichte. Du kennst es bereits seit ungefähr 30 Jahren ...
Ja, ich war in den späten 1980er Jahren bei einem Konzert, das das Ensemble mit Helmut Lachenmann in London gab. Die erste Zusammenarbeit fand dann 1993 statt, das war eine richtig große Tournee durch Österreich, die Schweiz und Deutschland: Wir spielten György Ligetis Klavierkonzert, mein Werk ›At First Light‹ und ein neues Werk von Wolfgang Rihm. Wir traten in Badenweiler, Wien, Berlin, Frankfurt und Basel auf. Es war eine der längsten Tourneen meines Lebens. Von Anfang an erstaunten mich das Engagement, die Energie, Brillanz und Kraft des Ensemble Modern. Die Musikerinnen und Musiker geben in all ihren Konzerten immer 200 Prozent. Es war eine traumhafte Erfahrung, mit ihnen zu arbeiten. Ich schreibe sehr selten mehrere Stücke für ein und dasselbe Ensemble, aber für das Ensemble Modern habe ich drei Werke geschrieben – mehr als für jede andere Gruppe auf der Welt. Eines davon war meine erste Oper ›Into the Little Hill‹ ...

Die wir nun aufführen werden ...
... worauf ich mich sehr freue!

Im Februar 2000 hast du zum ersten Mal das Ensemble Modern Orchestra dirigiert und Olivier Messiaens ›Des Canyons aux étoiles‹ in Gütersloh, Frankfurt und Berlin aufgeführt.
Ja, und wir hatten 2000 und 2003 auch weitere Tourneen mit dem Ensemble Modern Orchestra. Das Orchester ist ein Traum, weil es dieselben Qualitäten besitzt wie das Ensemble Modern selbst, aber um das Fünffache vergrößert! Da hat man ein Orchester aus lauter Solisten, ein Orchester aus lauter Experten und Liebhabern zeitgenössischer Musik. Als Konzept und Vision ist das außergewöhnlich, ich würde sogar sagen, einzigartig.

Was macht es so einzigartig?
Alle sind da, um moderne Musik zu spielen, jeder engagiert sich für die zeitgenössische Musik und ist begeistert, diese Musik zu spielen. Die Tatsache, dass Pierre Boulez euch in seinen letzten Jahren als Dirigent so viel Zeit widmete, beweist, wie außergewöhnlich das ist. Die Qualität der Aufnahme seiner ›Notations‹ ist einfach unglaublich. Die Raffinesse und Kraft, die Energie und Zuversicht, die Brillanz der Ausführung ist absolut außergewöhnlich.

Welchen Platz nimmt das Ensemble Modern Orchestra in der Gesamtwelt der Sinfonieonieorchester ein?
Es gibt viele Orchester, die nicht genug zeitgenössische Musik spielen. Es gibt manche Orchester, die sie zögerlich und nicht sehr gut spielen. Es gibt einige fantastische, wunderbare Orchester, die zeitgenössische Musik mit Begeisterung aufs Programm setzen und sie mit Hingabe spielen, und ich habe das Glück gehabt, mit einigen von ihnen zu arbeiten. Das Ensemble Modern Orchestra hat nicht nur ein fantastisches Niveau, sondern auch sehr gute Arbeitsbedingungen; wir haben reichlich Probenzeit, so viel wir brauchen. Das bedeutet, dass das Orchester jedes moderne Repertoire – Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez, Helmut Lachenmann, Gérard Grisey und alle anderen – auf dem allerhöchsten Niveau spielen kann. Die Musiker haben diese spezifische Energie und Klangqualität.

Nun gehen wir mit zwei Programmen auf Tournee, eines mit dem Ensemble Modern, eines mit dem Ensemble Modern Orchestra. Wie würdest du die Herausforderungen für einen Dirigenten beschreiben, der mit zwei so unterschiedlichen Ensembles auf dieselbe Konzertreise geht?
Gleichzeitig mit einem Ensemble und einem Orchester unterwegs zu sein – ich glaube, das ist eine Weltpremiere für mich, das habe ich noch nie gemacht. Und anstatt fünf Stücke im Kopf zu haben, werden es jetzt neun sein (lacht). Zum Glück kenne ich einige dieser Stücke sehr gut. Es wird auch eine extrem intensive Vorbereitungs- und Probenzeit, wenn man die Anzahl der Wochen betrachtet. Das ist eine spannende Herausforderung für mich. Wahrscheinlich hat man eine andere Art zu dirigieren und zu musizieren, wenn man 50 Musiker vor sich hat, als mit acht. Das wird ein interessantes Experiment. Aber obwohl ich die Mitglieder des Ensemble Modern lange nicht gesehen habe, sind sie meine Freunde. Zu einer meiner musikalischen Familien zurückzukehren ist etwas anderes, als mit Menschen zu arbeiten, mit denen mich keine gemeinsame Geschichte und Erfahrung verbindet. Ich vertraue ihnen, ich kenne ihre Leidenschaft und ihr Engagement für die Musik, die wir machen.

Wir hatten etliche Diskussionen über die beiden Programme. Nun haben wir zwei sehr unterschiedliche und aufregende Programme. Und wir haben jeweils ein Stück von dir in beiden Programmen ...
Das ist nett (lacht). Das Ensemble Modern hat eine Beziehung zu beiden Werken. Ich schrieb ›Into the Little Hill‹ für euch, ihr habt 2006 die Uraufführung gespielt und es seitdem etwa 40 Mal auf der ganzen Welt gespielt. ›Palimpsests‹ stellte ich 2002 fertig, und wir haben es dann auf einer Tournee mit dem Ensemble Modern Orchestra gespielt, auch bei den Proms in London 2004. Beide Stücke sind in meinem Kopf stark mit dem Ensemble Modern assoziiert.

Im Programm des Ensemble Modern Orchestra kombinieren wir ›Palimpsests‹ mit einem etwas bizarren Stück von Galina Ustwolskaja – beide für acht Kontrabässe.
Ja, dieses Stück von Ustwolskaja, ›Dies irae‹, ist sehr exzentrisch besetzt, in mancher Hinsicht ähnelt es darin meinem ›Palimpsests‹. Es ist ein Stück von nahezu kompromissloser Düsterkeit; es ist extrem heftig, dissonant und harsch, sogar grausam im Klang, und erlaubt dem Hörer nur wenige Momente der Erholung. Es ist kein Stück, das ich jeden Tag dirigieren möchte, und ich habe es noch nie gemacht. Es ist ein Zeugnis einer sehr isolierten, von ihrer Umgebung entfremdeten Frau, die in der Sowjetunion lebte, und ein Zeugnis unglaublicher Unabhängigkeit.

Zwischen diesen beiden kontrabasslastigen Klangexperimenten haben wir György Ligetis ›Ramifications‹ platziert.
Das Stück von Ustwolskaja klingt, als würde jemand mit einem Hammer Stein bearbeiten. Es ist gut, etwas sehr Kontrastierendes dabei zu haben, das fließender und delikat ist. ›Ramifications‹ ist ein kurzes Stück aus den späten 1960er Jahren, das eine interessante Textur und Stimmung hat; es benötigt zwei kleine Streichergruppen, die jeweils etwa einen Viertelton auseinander gestimmt sind. Die Reibung zwischen den zwei separat gestimmten Seiten des Ensembles ergibt einen höchst magischen, seltsamen, unheimlichen und geheimnisvollen Klang. Ich glaube, dass das einen sehr schönen Kontrast zu den schlagwerkreichen, dunklen Farben des restlichen Programms bildet. Das Ohr ist dafür dankbar. Man sollte ferner erwähnen, dass wir auch mit Blechbläsern anfangen, nämlich mit Pierre Boulez’ ›Initiale‹, einem Spätwerk, das sehr selten gespielt wird und extrem virtuos geschrieben ist.

Schließlich haben wir auch noch ein Werk deines Lehrers Olivier Messiaen ...
Ja, ein wunderbares Werk, das ich in London Mitte der 1980er Jahre dirigierte, wobei Yvonne Loriod, Messiaens Frau, den Klavierpart übernahm. Messiaen selbst war dabei anwesend. Damals wurde es von Studenten des Royal College of Music gespielt. Dieses sinnträchtige und originelle Werk wurde für eine exzentrische Gruppe von Instrumenten geschrieben: eine große Anzahl von Bläsern, eine prominente Trompetenstimme, eine Menge Schlagwerk, eine große Klaviersolostimme und acht Soloviolinen. Es ist auch nicht gerade leicht zu spielen!

Das ist auch typisch für das Ensemble Modern Orchestra. Wir haben die Möglichkeit, bizarre Besetzungen zu stemmen, weil wir völlig frei in der Organisation unserer Musikerinnen und Musiker sind. Mit dem Ensemble Modern Orchestra ist also ein Stück deines Lehrers Olivier Messiaen zu hören, im Programm des Ensemble Modern dann ein Stück deines Schülers Christian Mason – damit schließt sich der Kreis.
Ja, ich bin sehr zufrieden mit der Wahl von Christian Masons ›Layers of Love‹. Er ist einer meiner erfolgreichsten und talentiertesten Studenten, mit einen sehr feinen Instinkt und einer enormen Vorstellungskraft, was Klangfülle und Klanglichkeit angeht.

Sein Werk kombinieren wir mit einer Komposition von Luigi Dallapiccola, die für dich sehr wichtig war bei der Programmentwicklung.
Ich liebe einen Teil von Dallapiccolas Musik, nicht alles, aber manches erscheint mir sehr wertvoll. Seine Werke gehören zu den am meisten unterschätzten Werken des 20. Jahrhunderts. Er ist ein Miniaturist, ein Komponist der kleinen Form. ›Piccola musica notturna‹ ist ein kurzes, unglaublich atmosphärisches, zartes und poetisches Werk.

Und schließlich haben wir noch einen Kompositionsauftrag an Cathy Milliken vergeben.
Cathy kenne ich schon seit vielen Jahren, weil sie als Oboistin Gründungsmitglied des Ensemble Modern war. Leider hat sie die Gruppe vor über zehn Jahren verlassen. Sie widmet jetzt die meiste Zeit dem Komponieren, und ich freue mich darauf, die Partitur zu sehen und zu hören.

Genau wie wir! Das Ensemble Modern hat vor zwei Jahren ein weiteres Stück von Christian Mason aufgeführt, als Teil des Projekts ›CONNECT – Das Publikum als Künstler‹, eine Initiative, bei der das Publikum in der Aufführung mitwirkt. Ich weiß, dass dir Fragen der Vermittlung zeitgenössischer Musik viel bedeuten. Wie wecken wir die Neugier des Publikums und bringen die Menschen in Konzerte zeitgenössischer Musik?
Das Publikum zur Mitwirkung zu bewegen ist auf dem Papier eine schöne Idee, aber es ist sehr schwer, sie auch wirklich umzusetzen. Was den Besuch von Konzerten angeht, habe ich im Lauf der Jahre viel darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, ob es eine Illusion ist, aber mir scheint das Publikum für zeitgenössische Musik viel größer als früher zu sein. Natürlich wollen wir, dass so viele Menschen wie möglich die Musik ihrer eigenen Zeit genießen, sie interessant finden und hoffentlich auch lieben. Früher habe ich eine Menge Zeit damit verbracht, Festivals und Konzerte zeitgenössischer Musik zu organisieren und habe auch viel mehr als heute dirigiert und an Radiosendungen teilgenommen – so oft ich konnte. Seit 2000 jedoch versuche ich, meine Zeit auf die für mich beste Art zu nutzen, individuelle Komponisten zu unterrichten und mir ab und zu zu erlauben, spannende Dirigate oder Tourneen zu übernehmen, wie wir sie demnächst miteinander vorhaben. Ich denke, die beste Art für einen Komponisten, mit der Musikwelt und schließlich mit dem Publikum in Kontakt zu treten, ist, so viele Stücke wie möglich zu schreiben – und natürlich so gut wie möglich zu schreiben. Daher ziehe ich mich aus einer aktiveren Rolle in der Welt der zeitgenössischen Musik zurück, um mich auf meine eigene kompositorische Arbeit zu konzentrieren.

Ist es für dich als Dirigent und Komponist leichter, dem Publikum Musik nahezubringen?
Natürlich gewinne ich als Komponist, wenn ich gelegentlich meine eigenen Werke dirigiere. Es ist ein großes Vergnügen, Musik zu machen, aber ich bin jetzt 58 Jahre alt, und ich möchte schreiben. Für mich bedeutet das, dass ich mich einen Großteil der Zeit aus der Welt zurückziehen muss. Ich brauche zum Komponieren absolute Einsamkeit und muss mich von fast allem fernhalten. Also habe ich eine Entscheidung getroffen, die lautet: Ich bin ein Komponist, der dirigiert. Ich liebe es, zeitgenössische Musik aufzuführen, aber ich muss diese Aktivitäten auf bestimmte Zeiträume begrenzen.

Wir werden auf Tournee in Frankfurt, London, Köln und Hamburg sein.
Es wird mir eine Freude sein, nach Frankfurt zurückzukommen und dort aufzutreten. Ich freue mich auch sehr darauf, in die Kölner Philharmonie zurückzukehren, wo wir in der Vergangenheit so warmherzig empfangen worden sind. In der Elbphilharmonie habe ich diese ganze Spielzeit eine Residenz, was für mich unglaublich spannend ist. Und schließlich kommen wir in meine Heimatstadt, und das ist wirklich toll. Wir wurden von zwei Institutionen eingeladen. Die Wigmore Hall ist für das britische Musikleben ungeheuer wichtig, ist aber auch international als einer der prestigeträchtigsten Kammermusiksäle der Welt anerkannt. Die Akustik dort ist perfekt. Wenn man dort auf der Bühne spielt, fühlt sich das an, als würde man in Honig schweben. Der Klang ist so klar und so süß. Er hat eine unglaubliche Strahlkraft und Resonanz. The Roundhouse ist ebenfalls ein wunderbarer Konzertort. Während der letzten Jahre wurde es renoviert, und jetzt klingt es innen herrlich – und sieht auch so aus. Das ist eine außergewöhnliche Kombination von Konzerten im Vereinigten Königreich.

Es ist nicht das erste Mal, dass wir mit dir in London auftreten, aber das erste Mal, das wir mit »Sir« George in London sind. Wie hat sich dein Leben seither verändert?
Gar nicht. Außer, dass ich zutiefst geehrt bin. Es war wunderbar, von meinem eigenen Land so anerkannt zu werden. Wenn ich aber mit einem Orchester arbeite oder an meinem Schreibtisch sitze und versuche, die nächste Note zu finden, kommt mir das nicht in den Sinn. Ich habe zu Hause weder ein Schwert noch eine Rüstung, nicht einmal ein Pferd (lacht). Wenn ich mir die angeschafft hätte, so sähe mein Leben vielleicht mehr als ein wenig anders aus.

Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit dir und ich danke herzlich für das Gespräch!