STORY WATER

Ein Gespräch mit Melanie Suchy, Emanuel Gat und dem Ensemble Modern

›STORY WATER‹ bringt das Ensemble Modern mit einem der führenden europäischen Choreografen, Emanuel Gat, zusammen. Gemeinsam loten das Ensemble Modern und die Tänzerinnen und Tänzer von Emanuel Gat Dance, der Residenzkompanie an der Maison de la Danse im südfranzösischen Istres, in einem abendfüllenden Programm das Verhältnis von Musik und Tanz neu aus. Ein Teil der Choreografie wird auf Basis bestehender Werke entwickelt: Pierre Boulez’ ›Dérive 2‹ und Rebecca Saunders’ Kontrabasskonzert ›Fury II‹. Für den anderen Teil ›FolkDance‹ erschaffen 11 Tänzerinnen und Tänzer sowie 13 Musikerinnen und Musiker gemeinsam eine musikalisch-choreografische Gesamtpartitur, in der die Gesten der Klangerzeugung und des Tanzes ineinander übergehen – tradierte Grenzen und Zuständigkeiten werden überschritten und aufgelöst. Die Produktion wird im Juli 2018 beim Festival d’Avignon uraufgeführt und ist in der Folge beim Beethovenfest Bonn, beim Tanzfestival Rhein-Main in Frankfurt sowie in Antwerpen und Paris zu erleben. Die Tanzjournalistin Melanie Suchy sprach mit Emanuel Gat und dem Ensemble Modern über die Herangehensweise an dieses Projekt, bei dem die beiden Kunstformen Musik und Choreografie in einen gleichberechtigten Dialog treten.

Melanie Suchy: Herr Gat, Sie haben selbst einmal Musik studiert?
Emanuel Gat: Ich spiele Klarinette und wollte Dirigent werden. Ein Jahr lang habe ich an der Tel Aviv Academy studiert, da kam ich zufällig zum Tanzen. Ich war schon 23, das ist spät. Mein Entschluss stand sehr schnell fest, mich auf Tanz und Choreografie zu konzentrieren.

MS: Das haben Sie nie bereut?
EG: Nein, denn ich wäre wahrscheinlich kein guter Dirigent. Mein jetziger Beruf entspricht, glaube ich, viel mehr meiner Persönlichkeit.

MS: ›STORY WATER‹ besteht aus drei Stücken ...
EG: Aber es wird ein einziges kontinuierliches choreografisches Stück, in das die drei musikalischen Partituren hineingewebt werden. Zu Beginn des Projekts haben wir drei Tage lang mit einigen meiner Tänzer in den Räumen des Ensemble Modern ein paar Dinge ausprobiert. Wir sind da nur von Idee zu Idee gehüpft, um einen Eindruck zu bekommen, wie wir unterschiedliche Auffassungen von musikalischer Klangerzeugung und Komposition mit choreografischer Komposition verbinden könnten.

Ensemble Modern: Man könnte sagen, du choreografierst Musik. Stimmst du dem zu?
EG: Ja, Choreografie und musikalische Komposition haben viel gemeinsam hinsichtlich der Logik, wie man organisiert. Im Grunde organisiert man Information in Zeit und Raum; egal ob es musikalische Information, Töne, Frequenzen, Klänge sind oder Menschen und Bewegungen. Mich fasziniert es herauszufinden, ob ich mit Musikern dieselben Arbeitsprozeduren und Modalitäten nutzen kann wie mit Tänzern, nur dass sich das Resultat in musikalischer Weise manifestiert, statt in Bewegung und Choreografie.

MS: Hören Sie sich die Kompositionen von Boulez und Saunders nun besonders häufig an?
EG: Natürlich habe ich sie mir angehört. Aber im Allgemeinen mache ich ja keine Choreografie zu einer bestimmten Musik. Ich versuche nicht, sie zu illustrieren oder zu interpretieren, sondern möchte eine choreografische Struktur erschaffen, die unabhängig ist, mit eigenem Charakter, doch offen genug, um in einen Dialog mit der Musik zu treten.

EM: Der Dirigent Franck Ollu schlug schon vor einigen Jahren vor, Boulez’ ›Dérive 2‹ mit Tanz aufzuführen. Und Pierre Boulez selbst sagte einmal, es würde sich gut eignen in einer choreografierten Fassung aufgeführt zu werden.
EG: Das stimmt. Es ist so präzise und streng strukturiert, seine endlosen Variationen sind so unerbittlich. Doch andererseits erlaubt dieses Kaleidoskop, sich auf viele Weisen darauf zu beziehen. Es bietet viel Freiheit in einem sehr strikten Rahmen: eine interessante Balance.

EM: Es wird also die Weltpremiere der choreografischen Version von ›Dérive 2‹. Nicht der Tanz illustriert die Musik oder die Musik den Tanz, das ist die Basis dieses Projekts. Dieser Ansatz manifestiert sich in ›FolkDance‹, dem Teil des Abends, den wir komplett gemeinsam erschaffen.
EG: Als Ausgangspunkt dient uns Volksmusik. Diese Art von Musik hat einige sehr klar definierte Charakteristiken, bestimmte Rhythmen und Skalen etc., die wir unterschiedlich zusammenbauen und ausweiten können. So habe ich z.B. bei meiner Choreografie ›Sacre‹ zum ›Frühlingsopfer‹ von Igor Strawinsky auch gearbeitet, da war das Ursprungs-Bewegungsvokabular kubanische Salsa, die wir völlig dekonstruiert und restrukturiert haben. So etwas möchte ich hier auch versuchen.

MS: Welche Volkstänze und -musiken? Woher nehmen Sie die?
EG: Die einzelnen Musikerinnen und Musiker und Tänzerinnen und Tänzer werden sie mitbringen und damit die Vielfalt ihrer kulturellen Herkunft spiegeln.

MS: Rebecca Saunders schreibt in der Einführung zu ihrer Komposition ›Fury II‹: »Stille ist die Leinwand, auf der alle Klänge auftauchen und in die hinein sie wieder verschwinden.« Ihre Komposition gründet stark auf Klängen, auf Klangexplosionen; diese kontrastiert sie mit Stille. Stille verstärkt also diese Klänge. Dasselbe kann man über Tanz sagen: Man sieht oder erfährt eine Bewegung viel klarer, wenn sie in der Komposition oder Choreografie in Beziehung zu völlig stillen Momenten steht.
EM: Das Ensemble Modern hat Rebecca Saunders im vergangenen Jahr ein ›Happy New Ears‹-Konzert in der Oper Frankfurt gewidmet. In diesem Konzert haben wir auch das Kontrabasskonzert ›Fury II‹ präsentiert. Dass wir es jetzt wieder aufnehmen, liegt auch an der Begeisterung der Komponistin über die Interpretation und starke körperliche Präsenz unseres Bassisten Paul Cannon.
EG: Rebecca Saunders sagt ja über ihre Kompositionen, sie bedenke darin auch die körperliche Aktivität der Musiker. Dies gilt besonders für den Kontrabass, den zu spielen physisch ja sehr anspruchsvoll ist; wieder eine Parallele zwischen Musik und Tanz.

MS: Ein Text des persischen Mystikers Rumi hat dem Projekt den Titel verliehen, ›Story Water‹. Haben Sie ihn ausgewählt?
EG: Ich bin diesem Gedicht einmal begegnet und mochte den Gedanken, dass es immer eine Art Zwischenstufe zwischen einer Quelle und der Erfahrung gibt, die dann folgt. Mir gefällt diese beeindruckende Metapher des Wassers: Wir können nicht im Feuer sitzen. Willst du von der Wärme des Feuers profitieren, musst du mit ihm das Wasser eines Bades erhitzen, dann setzt du dich da hinein, und so hast du den Nutzen des Feuers. Das Wasser ist vielleicht, was Kunst ist: ein Zwischenstadium zwischen bestimmten menschlichen Erfahrungen und dem Publikum, das diese dann nachvollzieht.
EM: Der Text ist allerdings mehr als Inspiration gedacht, er hat in dem Programm sonst keine Funktion.

MS: Ihre Art zu choreografieren hat sich im Lauf der Jahre verändert. Jetzt verlassen Sie sich offenbar viel mehr auf die Tänzer?
EG: Ja, genau. Mit den Jahren hat mich immer mehr interessiert, eine Umgebung zu definieren, statt die tatsächlichen Aktionen der Tänzer festzuschreiben. Das eröffnet dem Werk und den Performern viel mehr Möglichkeiten. Im Grunde lehre ich sie eine Sprache oder gebe ihnen Regeln eines Spiels vor. Innerhalb der klar gesetzten Umgebung weiß man dann, was wie funktioniert, worum es geht, wohin man will, wer die Mitspieler sind – und dann ist man als Tänzer frei, die eigenen Fähigkeiten anzuwenden, seine Talente, Kreativität und Originalität, all das.

MS: Diese Regeln oder Rahmenbedingungen fixieren Sie schon vorher?
EG: Wir probieren verschiedene Dinge aus. Was passiert, wenn wir diese oder jene Regeln setzen? Wie reagieren die Tänzer oder Musiker darauf? Dann können wir sehen, welche Elemente funktionieren und was interessant ist.

MS: Sie geben den Tänzern Aufgaben: etwa die Distanzen zwischen sich auszuloten ...
EG: Choreografieren bedeutet, Menschen in Zeit und Raum zu organisieren. Fokussiert man sich auf dieses eine Element Raum und weitet es sozusagen aus, untersucht die Frage der Distanzen zwischen den Tänzern in einer dynamischen Konstellation, so ist das sehr aufschlussreich. Ist jemand näher oder entfernter von jemand anderem, folgt oder entfernt sich? Das ist, als beobachte man einen Schwarm Vögel am Himmel. Wie schaffen sie es, diese erstaunliche Formation aufrechtzuerhalten, so nah beieinander, ohne anzustoßen? Weil dem System eine bestimmte Logik zugrunde liegt, die es so effizient macht. Das visuelle Resultat könnte man Choreografie nennen.

MS: Sie sagten einmal, es gehe immer um Relationen und dass eben auch ein Werk in Beziehung mit den Beteiligten entstehe.
EG: Ja! Wenn ich nicht die Menschen bedenke, mit denen ich arbeite, stülpe ich ihnen ja bloß meine Ideen über. Und dabei übergehe ich die vielen Ideen, die sie haben, all die Möglichkeiten, die mit einer Gruppe von Leuten entstehen, die in einem Raum gemeinsam etwas ausprobieren. Das übersteigt bei Weitem das, was ich mir allein ausdenken könnte. Meine Rolle ist dann eine andere: Ich muss das alles in eine gewisse Richtung lenken, um Kohärenz herzustellen. Das ist schwierig, aber sehr interessant.

MS: Was mir auffiel bei der Aufführung Ihres Werkes ›SUNNY‹: Die Tänzer sehen einander häufig an.
EG: Weil die Choreografie nicht fixiert ist und die Tänzer eben nicht in einer Art Automatikmodus fahren und immer wissen, was gleich passiert. Sie komponieren und strukturieren in Echtzeit. Da brauchen sie natürlich Augenkontakt, müssen versuchen zu verstehen, was passiert, um dann die richtige Entscheidung zu treffen für ihre nächste Aktion. Das ist es, was ich auch mit den Musikern ausprobieren möchte. Es gibt in dem neuen Werk ›FolkDance‹ keinen Dirigenten. Es wird von den Musikern in Echtzeit gemanagt. Sie folgen zwar derselben Partitur, doch wird jeder Abend anders, je nachdem, wie sie ihn interpretieren. Jede Entscheidung wirkt auf die ganze Gruppe ein und ruft wiederum Reaktionen hervor.

MS: Das erwähnte Rumi-Gedicht spricht von dem Zwischenstadium und von dem Verbergen und Herzeigen des Verborgenen als Bewegungen oder Tätigkeiten darin. Spielen Geheimnisse, spielt das Verborgene bei Ihnen eine Rolle?
EG: Wir zeigen alles. Aber jeder im Zuschauerraum wird etwas anderes sehen und darf frei interpretieren. Doch die Sache mit dem Zwischenraum ist wichtig. Choreografie findet mehr in dem Raum zwischen den Tänzern statt als in ihnen selbst. Willst du eine Choreografie wirklich verstehen, achte auf die Räume zwischen den Tänzern. Thelonius Monk sagte einmal über Musik: »Manche Musik ist nur vorgestellt. Was man nicht spielt, kann wichtiger sein als das, was man spielt.« Anders gesagt, Musik passiert zwischen den Noten. Es sind gar nicht die Noten selbst.

Das Gespräch mit Melanie Suchy und Emanuel Gat führten vonseiten des Ensemble Modern Christian Fausch (Künstlerischer Manager und Geschäftsführer) und Rainer Römer (Schlagzeug und Vorstand).