Die Kulturpartnerschaft mit hr2-kultur

Das Ensemble Modern im Gespräch mit Angelika Bierbaum

Seit Beginn der Abonnement-Reihe des Ensemble Modern 1985 in der Alten Oper Frankfurt hat der Hessische Rundfunk (hr) diese Konzerte aufgezeichnet sowie gesendet und fungiert damit für das Ensemble Modern auch im internationalen Kontakt als wichtiger Multiplikator. Zahlreiche CD-Produktionen wie Kurt Weills Berlin im Licht und Die Dreigroschenoper, Wolfgang Rihms Jagden & Formen oder Helmut Lachenmanns Mouvement sowie die Porträt-CD-Reihe des Ensemble Modern wurden mit Hilfe von hr2 realisiert; dabei wurden einige dieser Einspielungen mit einem der insgesamt acht ECHO-Preise für das Ensemble Modern ausgezeichnet.Zahlreiche Sendungen und Veranstaltungshinweise in hr2-kultur informieren über die Aktivitäten und Konzerte des Ensemble Modern. 2009 wurde die »Medienpartnerschaft« zu einer »Kulturpartnerschaft« weiterentwickelt. Neben dem Ensemble Modern verbindet hr2-kultur mit 17 weiteren ausgewählten hessischen Kulturinstitutionen eine Kulturpartnerschaft, um sich bei der Verwirklichung kultureller Aktivitäten und Ideen noch besser gegenseitig kreativ auszutauschen. Diese Beziehungen, die das Ensemble Modern (EM) seit fast 30 Jahren mit hr2-kultur verbinden, nahmen wir zum Anlass, mit der hr2-Programmchefin, Angelika Bierbaum (AB), über die Kulturpartnerschaft, aber auch allgemein über die Rolle der Neuen Musik im Radio zu sprechen.

EM: Die Partnerschaft zwischen hr2- kultur und dem Ensemble Modern ist für uns von sehr großer Bedeutung. Wie ist die Sicht von hr2 auf den Kulturpartner Ensemble Modern?


AB: Das Ensemble Modern halten wir für eine wichtige kulturelle Institution, sonst wäre es nicht unser Kulturpartner. Wir arbeiten mit klaren Kriterien. Kulturpartner müssen den Kulturbegriff einlösen und die Kultur machen, die in unserem Programm eine große Rolle spielt. Das ist Klassik, Jazz, Neue Musik, natürlich Literatur, Theater, Kunst. Und sie müssen die Kulturprogramme selbst aufführen oder kuratieren. Deswegen war das Ensemble Modern ganz natürlich in der ersten Auswahl dabei, als ein Ensemble, das selbst ein Kulturschaffender ist. Das Ensemble Modern ist übrigens der einzige Klangkörper unter den Kulturpartnern. Und da es in Frankfurt beheimatet ist, war es für uns völlig naheliegend, auf das Ensemble Modern zuzugehen.

EM: Wo ist in der Sicht von hr2-kultur die Neue Musik angesiedelt?


AB: Wir sind mit Sicherheit nicht so ein ausgefuchster Sender für Neue Musik wie SWR2. Aber die Neue Musik gehört für mich in den Kanon mit hinein und ist ganz fest mit Sendeplätzen verankert. Uns ist es wichtig, einem hr2-Hörer jede Woche zeitgenössische Musik anzubieten und sie gut zu vermitteln, denn eine Konzertsaalsituation und eine Radiosituation sind nicht ganz identisch. Es gibt ein wunderbares Zitat von Stockhausen: Die Aufführung sei zu vergleichen mit einer Skulptur, die man von allen Seiten aus unterschiedlichen Blickwinkeln sehen und begreifen kann; und wenn diese im Radio gesendet wird, sei das wie eine Fotografie der Skulptur. Das Zitat verweist auf etwas, das tatsächlich ein Handicap des Mediums Radio ist. Neue Musik im Konzertsaal zu erleben vermittelt sehr viel mehr als das, was über den Gehörsinn läuft. Es gibt viele Aufführungen zeitgenössischer Musik, bei denen man ausgesprochen gerne auch hinschaut, z.B. was an Interaktion zwischen den Musikern passiert; es ist eine Hörhilfe. Das fällt im Radio weg. Und deshalb sollte ein Redakteur für Neue Musik sich der Vermittlungsarbeit sehr bewusst sein, um diese Defizite, die eine Radioübertragung gegenüber einer Konzertsaalsituation hat, wettzumachen, indem er Zugänge schafft, freier mit dem Material umgeht, mit Ausschnitten arbeitet, Einführungen gibt ...

EM: Und wo geht die Vermittlungsarbeit Ihrer Meinung nach hin?


AB: Da gibt es kein Patentrezept. Wer eine Sendung mit Neuer Musik macht, muss auf alle Fälle Zugänge und Einstiege schaffen; das muss man fantasievoll machen. Das ist aber kein Plädoyer für eine Überdidaktisierung des Programms. Ich habe einmal abends bei uns eingeschaltet und wusste, dass gleich Neue Musik kommt, war aber nicht dazu aufgelegt. Es war ein Komponistenporträt über Hans Ulrich Engelmann. Und dann fing diese Sendung an, und sie war so gut gemacht, so spannend, hat mich so gefesselt, dass ich die Sendung bis zu Ende gehört habe. Radio muss genau so sein.

EM: Wie gestalten Sie die verschiedenen Anteile im gesamten Programm? Werden z.B. spezielle Formen, spezielle Künstler ausgewählt?


AB: Da habe ich natürlich das Vertrauen in den Fachredakteur. Mit seiner Expertise für Zeitgenössische Musik kann er einschätzen, was sich gerade tut, was es für Strömungen gibt, wo es interessante jüngere Komponisten gibt, die aufhorchen lassen; er registriert, was auf Festivals Diskussionsstoff bietet. Ich wünsche mir, dass er sein Ohr am Puls der Zeit hat und auch mit einer guten Urteilsfähigkeit herangeht, das möchte ich dann auch für ein Publikum thematisieren. Und als »Kulturradio für Hessen« interessiert uns: Was passiert denn vor Ort in Hessen? Und wenn hier ein Ensemble sitzt wie das Ensemble Modern gerade weil es einen internationalen Ruf hat , sind diese Aktivitäten richtig interessant. Es gibt auch Dinge, die ich zufällig wahrnehme. Von Haus aus bin ich mit Neuer Musik sehr vertraut; ich habe eine durchaus starke Beziehung zu ihr, vor allem zum zeitgenössischen Musiktheater. Die neue künstlerische Produktion bietet mir immer auch eine Reibungsfläche; es ist immer ein bisschen anstrengender und schwieriger, aber es wird nicht nur etwas schon Bekanntes reproduziert. Und ich versuche immer, Leute, die sich schwer damit tun, zu beruhigen, dass man sich zuerst einhören muss und sich nicht unter Druck setzen lassen darf, etwas verstehen zu wollen. In der Rezeption von Kunst geht es nicht um etwas Faktisches, was sich erschließen muss, sondern da ist sehr viel Interpretationsspielraum zwischen dem Kulturprodukt und dem Rezipienten.

EM: In der Musik haben Sie demnach eine Affinität zur Neuen Musik. Wie ist das in den anderen Bereichen?


AB: Ich habe natürlich zu vielem, was bei uns in der Welle läuft, eine Affinität. Die Literatur hat ja bei uns einen ganz hohen Stellenwert. Aber ich bin keine Literaturexpertin, ich habe Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie studiert, keine Germanistik. Ich bin aber neugierig auf das gesamte Kulturleben und nehme es intensiv wahr.

EM: Wie sind dann die Entscheidungsverläufe, welchen Dingen man sich in welchem Umfang widmet?


AB: Es gibt natürlich zunächst eine klare Abgrenzung, wofür welche Welle da ist, und wir sind für Kultur da. Ich persönlich bin dafür verantwortlich, wie ein Programm aufgestellt wird. Aber das Programm selbst machen die Kolleginnen und Kollegen des Teams. In meiner Rolle als Programmchefin versuche ich auch immer wieder, die Perspektive des Hörers einzunehmen. Von dem Hörer oder der Hörerin zu sprechen ist natürlich schwierig, da wir eine sehr heterogene Hörerschaft haben. Die geht von den »Hardcore«-Klassikfans zu Leuten, die nichts mit Klassik anfangen können, die aber Wortkultur sehr stark lieben. Das Publikum der Neuen Musik hat oftmals eine ziemliche Nähe zu den Hörspiel-Interessenten, die Jazz- Liebhaber dagegen sind eine ganz andere Gruppe. Dann gibt es aber auch Kulturinteressierte, die recht tolerant und für vieles offen sind.

EM: Und wie reagiert man auf die Wünsche des Hörers? Wie findet man sie heraus?


AB: Kulturradio hat ein Potenzial von circa zwei Prozent am Tag; das ist die quantitative Seite. Für die qualitative Seite versucht man immer wieder über die Medienforschung ein Bild zu bekommen. Die Medienforschung arbeitet mit der sogenannten Medien- Nutzer-Typologie. Es gibt zehn unterschiedliche Medien-Nutzer- Typen, wobei zwei davon für uns interessant sind: der »Moderne Kulturorientierte « und der »Kulturorientierte Traditionelle«. Diese Medien- Nutzer-Typologien ergeben richtige Steckbriefe und untersuchen, welche Rolle das Medium für die verschiedenen Typen spielt. Der Moderne Kulturorientierte ist durchaus radioaffin, kulturell viel unterwegs und sehr breit aufgestellt, geht genauso in ein Sinfoniekonzert wie er zu Paolo Conte gehen würde, geht ins Kino, liest viel, ist sehr offen, musiziert selbst. Der Kulturorientierte Traditionelle ist ganz anders: Das ist der ältere Bildungsbürger, der hoch gebildet ist, eine große Affinität zur Hochkultur, aber wenig Toleranz hat. Dann gibt es noch einen interessanten Medien-Nutzer-Typ, an den wir uns nicht dezidiert richten: der »Zielstrebige Trendsetter«. Das sind jüngere Leute, die einmal die Modernen Kulturorientierten von morgen werden könnten. Bei dieser Untersuchung haben wir herausgefunden, dass diese jungen Leute für viele Themen zu haben sind, aber die Art und Weise, wie man ein Thema präsentiert, entscheidend ist. Sie wollen es eigentlich alle pointiert. Das sind Anhaltspunkte, die uns helfen.

EM: Und wie arbeiten Sie das auf?


AB: Im Moment sind wir dabei, für das Tagesprogramm grundlegend neue Redaktionsstrukturen und Arbeitsweisen aufzusetzen. Es soll ein guter redaktionsinterner Diskurs stattfinden, wo lauter kluge Köpfe zusammensitzen.

EM: Die Kompetenz Ihrer Gruppe muss ja auch sicherlich immer wieder durch frische Ideen befeuert werden ...


AB: Unbedingt! Diese neuen Teams für das Tagesprogramm bestehen aus einem Mix aus »Alten Hasen« und jüngeren Kollegen, die mit ganz frischem Blick an die Sache herangehen. Ein simples Beispiel: Als »traditionelles « Kulturgut kann ich ein Buch, eine CD, ein Hörbuch, vielleicht eine DVD nutzen. Das ist für die Jüngeren überhaupt nicht so: Da gibt es Apps, spannende Websites, hochinteressante Blogs, wo kulturelle Themen diskutiert werden. Was sich da tut, sind hochkreative Sachen, die einen mit Kultur in Berührung bringen, aber via andere Medien. Das wollen wir auch stärker ins Programm nehmen.

EM: Wie geht es Ihrer Meinung nach mit der Radiokultur zukünftig weiter?


AB: Es gibt nichts, was man auf lange Zeit prognostizieren kann. Ich bin der Meinung, dass das Leben eine dynamische Angelegenheit ist und die Situation der Medien auch. Man muss schauen, wie sich der Mediensektor insgesamt entwickelt. Das Kulturradio hat ja eine höhere Halbwertszeit, die Inhalte einen bleibenden Wert. Die Frage ist: Wie stellen wir diese zur individuellen Weiternutzung zur Verfügung? Auch wenn wir einerseits eine Minderheitenwelle mit den geringsten Hörerquoten sind, sind wir andererseits Spitzenreiter, was die Nutzung von Podcasts angeht. Wir sind immer recht unglücklich, dass wir aus urheberrechtlichen Gründen keine Podcasts mit Musik ins Netz stellen dürfen. Auch bei unserer täglichen großen Gesprächssendung Doppelkopf müssen wir die Musik herausnehmen, was sehr bitter ist, weil es zum Konzept dazugehört, dass der Gesprächsgast drei bis vier Lieblingsmusiken mitbringt. Wir würden gerne sehr viel mehr zur Verfügung stellen, denn der moderne Hörer ist durchaus anspruchsvoll und möchte den Zeitpunkt selbst bestimmen, wann er etwas hört. Nicht nur die Medienwelt verändert sich, sondern auch die Situationen, Gewohnheiten, Ausgabegeräte. Ich möchte, dass wir am Puls der Zeit bleiben.

EM: Gab es denn schon einmal eine Doppelkopf-Sendung mit Ihnen? Wenn es die gäbe, was wären Ihre vier Musikwünsche?


AB: Das wäre total schwer. Da könnte z.B. etwas von Heiner Goebbels Eislermaterial dabei sein, Sky and Sand von Paul Kalkbrenner, Schuberts Schlusssatz der Klaviersonate c-Moll D.958, auch etwas von Christóbal de Morales mit dem Hilliard Ensemble und Jan Garbarek.

EM: Was würden Sie dem Ensemble Modern für die Zukunft mitgeben?


AB: Bringt die Neue Musik auch ins Gespräch, sucht den Dialog mit dem Publikum. Denkt auch daran, gelegentlich den Kontakt zu Genres, die man nicht lupenrein zur Neuen Musik zählen kann, die aber auch spannend sind, zu suchen. Wo gibt es Berührungspunkte zu populäreren Musikstilen, die aber nicht platt sind, sondern wo etwas passiert? Oder aber auch hin zur Hörspielszene. Da würde ich ganz wachsam sein; ich glaube, dass es da eine große Offenheit beim Publikum gibt.

EM: Vielen Dank!