Loops and Lines

Tanzprojekt mit dem Ballett des Staatstheaters Wiesbaden

Das Ensemble Modern erarbeitet momentan mit dem Choreografen Stephan Thoss und seinem Ballett des Staatstheaters Wiesbaden die Produktion ›Loops and Lines‹, die am 26. Oktober 2013 im Staatstheater Wiesbaden ihre Premiere haben wird und in neun Folgeaufführungen in der Saison 2013/14 zu erleben ist. Der Abend beschäftigt sich mit der Gedankenwelt Rudolf von Labans; seine Lehre von den Bewegungen menschlicher Körper wird auf die Welt der Musik und Klangkörper übertragen. Rudolf von Laban hat in den Zehner und Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts den Deutschen Ausdruckstanz mitbegründet. Viele seiner Protagonisten mussten während der Zeit des Nationalsozialismus das Land verlassen, einige kehrten nach dem Exil zurück, Laban nicht. Es hat sich so nur schwerlich eine Art Tradition entwickeln können. Doch Kurt Jooss, der bei Laban gelernt hatte, kam aus England zurück und baute die Folkwang- Tanzausbildung in Essen wieder auf, der Pina Bausch und Susanne Linke entsprangen. Stephan Thoss (ST) hat eine ganz eigene Verbindung zu diesen Ursprüngen. Darüber und über die Laban’schen Theorien sprach Melanie Suchy (MS) mit ihm.

MS: Herr Thoss, Sie haben bis 1983 an der Palucca-Schule in Dresden Tanz studiert. Wie kamen Sie in Berührung mit dem Ausdruckstanz?


ST: Ausgerechnet ein Lateinamerikaner hat mir die deutsche Tradition erklärt: Patricio Bunster, der bei Kurt Jooss getanzt und bei dessen Kollegen Sigurd Leeder studiert hatte. Niemand sonst an der Schule hatte davon Ahnung. Gret Palucca verbot sogar diesen Unterricht, sodass Patricio ihn heimlich, neben seinem regulären Pädagogendeputat, und nur für einzelne Schüler abhielt. Ich war dreizehn. Bis in die Nacht haben wir gesprochen. Fast fünf Jahre lang ging das so. Auch während meines ersten Engagements an der Semperoper bin ich weiterhin zu ihm nach Hause geradelt, habe die Bücher abgeschrieben, denn es gab ja keine Kopierer. Dieses Wissen weiterzugeben, bin ich ihm in gewisser Weise schuldig.

MS: Was ist so faszinierend daran?


ST: Menschen haben eigentlich ein ganz grundlegendes Verständnis für Tanz. Kein Kind muss lernen, dass es hüpfen muss, wenn es lustig ist, und den Kopf hängen zu lassen, wenn es traurig ist. Körperempfinden, Körperbewegung, Körpersprache ist sozusagen angeboren und von emotionalen Gefühlszuständen nicht zu trennen. Was tun wir eigentlich in unserer Gestik: Wie dynamisch, wie räumlich bewegen wir uns, wenn wir uns so und so fühlen? Das gilt es zu entdecken, sagt Laban.

MS: Wie ist er dabei vorgegangen?


ST: Er hat viel mit Kindern gearbeitet. Diese machten bei thematischen Vorgaben erstaunlich ähnliche Dinge oder auch Bewegungen, die sie nie vorher gesehen hatten. Warum, bleibt ein Phänomen und ein Wunder, sagt Laban. Jooss war weniger Theoretiker; er hat das alles als Choreograf praktisch umgesetzt und hat gemeinsam mit Sigurd Leeder Labans Theorien teilweise überarbeitet und in die damalige Zeit gebracht. Einen solchen Schritt gehe ich nun auch wieder: das Übersetzen ins Heute.

MS: Das alles lässt sich nicht an einem Abend zeigen ...


ST: Nein, aber ich werde ein paar Beispiele bringen, um die Systematiken oder Theorien begreifbar zu machen. Ihr Ansatzpunkt liegt in der Motorik unseres täglichen Lebens. Für diese »Technik« gibt es nämlich keine Bilder, keine Männlein in Büchern, die Posen machen; hier muss man alles selbst tun und sich vorstellen. Sie ist deshalb zeitlos, und der Tanz von Mary Wigman, die mit Laban gearbeitet hatte, sieht ganz anders aus als unserer. Das liegt am jeweiligen Umgang mit der Basis: Wie verhält sich der Körper, wie verhalten wir uns zur Komponente Zeit (Geschwindigkeit), zum Raum, wie gehen wir mit der Energie um? Dazu kommen die physikalischen Gesetze wie die Erdanziehungskraft.

MS: Ein konkretes Beispiel?


ST: Der Sprung. Manchmal will er nur präsentieren: Schau mal, wie gut ich das kann. Ansonsten liegt in ihm immer eine Motivation, die inhaltlich etwas erzählt. Etwas so schnell wie möglich zu überwinden: Ich springe schreckartig vor einer Maus weg. Das nennt man einen initialen Akzent. Wo ich lande, ist egal. Oder ich springe über einen Bach, da muss ich das Ziel treffen. Das heißt: terminaler Akzent. Das inhaltliche Motiv – siehe Ausdruckstanz – ist nicht der Sprung, sondern das »über etwas hinweg, von etwas weg, zu etwas hin oder nur hoch«. Vier Basissprünge. Alle anderen sind nur Kombinationen davon.

MS: Laban hat auf diese Weise immerzu nach dem Ansatz, dem Motiv, der Basis geforscht ...


ST: Man lernt da etwas viel Grundsätzlicheres als »Technik«. Die Theorie soll auch nicht primär zu Choreografien führen, sondern dem Tänzer begreiflich machen, was er tut. Was bewegt uns? Warum bewegen wir uns? Darin ist der Mensch ein Tier, sagt Laban: Wir bewegen uns, um nicht zu verhungern und um uns fortzupflanzen. Anders als Tiere aber können wir Menschen uns in andere Bewegungskulturen hineinversetzen. Galoppieren, katzenhaft schleichen. Vielleicht ist es deshalb eine Kunstform geworden.

MS: »Die Musik entsteht aus der Bewegung«, sagte Laban.


ST: Es gibt keine Musik, kein Geräusch, kein Fiepen oder Rauschen ohne Bewegung. Das ist Physik. Er hat viel über Musik gewusst. Schließlich hat er auch seine Tanzschrift daraus entwickelt, ein Notenpapier hochkant zu stellen, um mit so wenig Zeichen wie möglich Bewegungen zur Musik aufschreiben zu können.

MS: Wie beginnen Sie die Tanz-Musik- Aufführung auf der Bühne?


ST: Zunächst improvisieren die Musiker und wir nach fünf oder sechs Hauptideen der Laban-Lehre über Dynamik, darunter fällt die Geschwindigkeit, Räumlichkeit/Ikosaeder und Raumdurchführung. Das probieren wir noch. Mal sehen, worauf die Musiker Lust haben und wo sie sich wohl fühlen. Die Energiegeladenheit – ein Aspekt der Dynamik – ist ja bei einem Tänzer und einem Tonerzeuger sehr wichtig: Wenig Energie oder Muskelkrafteinsatz ergibt einen geringen Klang, viel Energie einen lauten oder kräftigen oder schärferen Klang. Oder wir testen, was einen schwebenden Klang ausmacht oder den Unterschied von zentral und peripher gesteuerten Tönen. Vielleicht klingen vom Körperzentrum aus erzeugte Töne wie die entsprechenden Bewegungen etwas wärmer als diejenigen, die von außen sozusagen hergeholt werden und kühler wirken? Ich werde mit kurzen Kommentaren durch diesen Programmteil führen, und da Patricio immer sagte, »Wir lernen nichts über Bewegung, wenn wir uns nicht bewegen«, werde ich die Zuschauer auch auffordern, etwas zu tun.

MS: Inwiefern betrifft das Prinzip Raumdurchführung einen sitzenden Musiker?


ST: Auch ein Ton »durchführt« den Raum. Es gibt einen geraden Ton; oder der Ton macht einen Bogen von unten nach oben oder umgekehrt. Wir fühlen oder sehen vor dem inneren Auge, dass er steigt und fällt oder schnörkelt. Grundsätzlich kann man von einem Punkt A nach B nur auf drei Weisen kommen: geradeaus, bogenförmig, rund. Laban notierte zusätzlich noch die Wellenlinie, also einen Bogen, gefolgt vom umgekehrten Bogen. Alles andere sind wieder Kombinationen. Eine Bewegung demonstriert sich in dem, was hinter ihr liegt. Der Weg: Be-Weg-ung. Sie hinterlässt eine »Spur«, etwa eine Spirale, eine Durchkreuzung, einen Kreis. Es ist wie Malen oder als wenn man eine bewegte Taschenlampe im Dunkeln mit Langzeitaufnahme fotografiert. Der Mensch hat eine gewisse Fähigkeit, sich eine Raumdurchführung zu merken, wie auch eine Melodie.

MS: Was folgt auf diesen ersten Teil des Abends?


ST: Im zweiten Teil herrschen diese Gesetze fließend. Wir werden zwei Kompositionen in diesem Sinne interpretieren. Dazu haben wir ›Eight Lines‹ von Steve Reich und ›Shaker Loops‹ von John Adams ausgesucht. Die Aufführungsform finde ich zusammen mit den Musikern. Ich bin bewusst ohne Idee für ein Bühnenbild in das erste Treffen auf der Bühne gegangen. Die Musik von Adams hatte etwas von einem Zug, wurde schneller, verlangsamte sich; da kam mir spontan die Idee, die Musiker in eine Reihe schräg hintereinander zu setzen. Das ergibt auch aus Sicht der Zuschauer eine Grenzlinie mit einem Davor und Dahinter, zwei keilförmige Räume. Der Klang und die Darsteller des Klangs, die Musiker, bedeuten eine durchgehbare Membran oder Klangwand. Wir verschmelzen miteinander. Vielleicht lasse ich im hinteren Dreieck einen Wald aus leeren Kleidungsstücken schweben. Die Tänzer kommen aus der Welt der Hüllen und des Scheins in ein Gebiet, wo sie pur sind.

MS: Haben Sie schon eine Idee zu dem Oktett von Steve Reich?


ST: Dafür müssen wir noch eine Form finden. Vielleicht fahren wir ein Podium hoch für die Musiker. Einige von ihnen haben relativ lange Pausen zwischen den Einsätzen; ich möchte herausfinden, wie wir sie einbeziehen können und wie mutig sie sind. Vielleicht können sie ihre Plätze verlassen und die Tänzer ihre Position einnehmen? Dafür müssen wir Wege finden, ohne dass die Musiker ihr Instrument aus der Hand legen und herunterspringen; aber eine Treppe würde allzu erwartbare Aktionen generieren. Es soll auch weder so aussehen, als würden da bloß Lücken gefüllt, noch sollen die Musiker, gemäß Labans Intention, extra tanzen lernen.

MS: Sie entschieden beim ersten Treffen, die Musiker nicht im Orchestergraben zu versenken. Sie fanden den Kontakt untereinander wichtig.


ST: Das ist doch das Reizvolle an dem Projekt. Jenes Treffen sollte den Musikern auch die Bedenken nehmen, der Tanz würde ihr Spiel behindern. Es war sofort ein Miteinander. Es geht mir aber nicht darum, dass wir eineiig sind oder auf einer Wellenlinie reiten. Wir werden auch Momente für Reibung finden oder uns konträr zur Musik verhalten. Dialog bedeutet ja nicht immer nur einer Meinung zu sein. Das gibt der Musik Tiefe, auch Macht, im Sinne von: Ihr könnt um mich herum machen, was ihr wollt, ich behalte trotzdem die Ruhe. Musik kann uns beeinflussen, doch hat sie nicht die Macht, den Tänzer in ihrem Rhythmus komplett gefangen zu halten oder eine tief startende Emotion zu lindern. Sie ist nicht allmächtig. So bleibt sie menschlich, auch verletzbar. Sie will gehört, verstanden, geliebt werden – vielleicht auch gehasst werden –, will nerven, aufrütteln. Wie der Tanz, mit dem man eben auch noch mehr und Tieferes ausdrücken kann als mit Worten.