›Minotaurus‹

Ein Gespräch mit Markus Hechtle über sein neues Werk

In der griechischen Sage wird der Minotaurus in das von Dädalus erbaute Labyrinth verbannt, um die Menschen vor dem Minotaurus zu schützen. In seiner 1985 verfassten Ballade ›Minotaurus‹ deutet Friedrich Dürrenmatt den antiken Mythos um. Der Minotaurus wird hier weggeschlossen, »um die Menschen vor dem Wesen und das Wesen vor dem Menschen zu schützen«. Darüber hinaus rückt Dürrenmatt die Wahrnehmungswelt des Minotaurus in den Mittelpunkt seiner Ballade, die Grundlage ist für Markus Hechtles gleichnamiges neues Werk, das im Februar 2013 im Rahmen des Festivals ECLAT im Theaterhaus Stuttgart mit dem Ensemble Modern und der Schauspielerin Nicola Gründel uraufgeführt wird. Es ist die 30. Ausgabe des Festivals und zugleich die letzte mit Hans-Peter Jahn als künstlerischem Leiter. Gemeinsam mit dem Regisseur Thierry Bruehl hat Markus Hechtle eine Konzeption entwickelt, die aus Dürrenmatts Ballade Musiktheater macht, eine Begegnung zwischen Musik und Sprache, zwischen Klang und Darstellerin. Noch mitten im Entstehungsprozess hatte das Ensemble Modern (EM) die Möglichkeit mit Markus Hechtle (MH) über sein neues Werk zu sprechen und so Einblick in seine Werkstatt zu nehmen.

EM: Wir wissen, dass du schon seit langer Zeit über die Umsetzung des Minotaurus-Stoffes in eine musikalische Form nachdenkst. Was hat dich an diesem bekannten, antiken Stoff so angezogen?
MH: Alles, was antik, verstaubt oder altertümlich an diesem Stoff wirken könnte, spielt bei Dürrenmatts ›Minotaurus‹ keine Rolle. Mich hat der Text, den ich jetzt schon ziemlich lange kenne, damals regelrecht angesprungen, sowohl inhaltlich als auch durch die Art und Weise, wie er geschrieben ist: atemlos, die Geschichte in einem Zug erzählend. Fast erschien mir der Text wie Ariadnes Faden im Labyrinth. Und so wollte ich ihn auch musikalisch anlegen. Kannst du genauer beschreiben, worin die Unterschiede zwischen der Minotaurus-Legende und der Dürrenmattschen Ballade liegen?

MH: Es sind zwei charakteristische Dinge, die Dürrenmatt neu erfindet. Zum einen ist das Labyrinth bei Dürrenmatt aus Glas, so dass sich der Minotaurus fast permanent einem Meer von Spiegelbildern gegenübersieht. Daraus entsteht ein Lern- oder Bewusstwerdungsprozess: Zunächst hält der Minotaurus sein Spiegelbild für einen anderen Minotaurus, bevor er erkennt, dass es sich dabei um ihn selbst handelt. Und zum anderen entwickelt Dürrenmatt aus dieser Spiegelidee die Vorstellung, dass nämlich Theseus sich mit einer Stiermaske tarnt und dadurch vom Minotaurus zunächst für einen Artgenossen gehalten wird. Am Ende der Geschichte findet also etwas ganz Ähnliches wie am Anfang statt, nur eben sozusagen invertiert: Der Minotaurus sieht sich einem Minotaurus gegenüber, den er aufgrund seiner gewonnenen Erfahrung für sein Spiegelbild hält, um dann festzustellen, dass es sich diesmal doch nicht um sein Spiegelbild handelt, sondern um ein anderen, einen zweiten Minotaurus. Plötzlich erwacht im Minotaurus so etwas wie Hoffnung auf Freundschaft, Liebe, Zweisamkeit, Gemeinschaft. Voller Freude verliert er jeden Argwohn und in diesem Moment sticht Theseus zu.

EM: Inwieweit setzt sich die Idee des Spiegels in der musikalischen Umsetzung fort?


MH: Das wird sich dem Zuhörer hoffentlich sofort vermitteln. Wir haben eine typische Ensemblebesetzung, insgesamt 13 Instrumente, wobei dem Klavier eine ganz zentrale Bedeutung zukommt, es ist quasi aus dem Ensemble herausgebrochen. Das Klavier spielt die ganze Zeit über eine einstimmige Linie und ist engstens mit der Schauspielerin verbunden: Immer wenn die Schauspielerin spricht, spielt das Klavier, bzw. wenn das Klavier spielt, spricht die Schauspielerin. Sie sind aneinander gekettet, sie kommen beide nicht voneinander los. Sie bespiegeln sich und sind auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden. Nach diesem Bild habe ich lange gesucht. Mir war früh klar, dass ich die Musik am Text entlang weben will, aber ich wusste zunächst nicht wie, und dann kam diese Idee mit dem Klavier, mit der ich sehr glücklich bin. Für die Schauspielerin Nicola Gründel ist es ein ungeheurer Parforceritt, denn sie muss den Text immer auf die Phrasen des Klaviers platzieren.

EM: Und das Element des Fadens der Ariadne?
MH: Der Faden, das Labyrinthische überhaupt, wie auch die Spiegelungen im Labyrinth spiegeln sich eben im Gefesselt-Sein von Klavier und Sprechstimme respektive in der einstimmigen Linie des Klaviers. Sie verzweigt sich immer wieder, sie kommt an Punkte, wo sie schon einmal gewesen zu sein scheint, nimmt dann aber doch eine andere Wendung, einen anderen Weg, sie ist nie gleich, aber oft ähnlich, und manchmal dann doch überraschend anders. In welchem Verhältnis bewegen sich die anderen Instrumente?

MH: Die anderen Instrumente haben vielfältige Möglichkeiten: Sie können einen Raum dahinter eröffnen, färben, sie können das Klavier und die Schauspielerin begleiten, sie können kommentieren, einschreiten, sie können versuchen, die Schauspielerin zu übertönen, regelrecht anzuschreien, gegen sie zu arbeiten, und sie können auch abwesend sein; manchmal schweigt das Ensemble lange.

EM: Können die Musiker diese Möglichkeiten definieren?


MH: Nein, die sind von mir definiert; es ist alles genau komponiert.

EM: Wie würdest du das Verhältnis zwischen Sprache und Musik beschreiben?


MH: Manchmal ist es redundant, geradezu illustrativ, deskriptiv erzählend, nachahmend, manchmal ist die Musik Färbung, manchmal Störfaktor, manchmal vollkommen autonom. Die Rolle der Musik und des Ensembles kann sich in jedem Moment verändern.

EM: Du gestaltest also die Geschichte bzw. die Hintergründe der Geschichte in der jeweiligen Szene nach deinen musikalischen Vorstellungen so aus, wie du sie empfindest?


MH: Absolut. Die Vorgabe ist der Text. Ich habe am Text nichts gekürzt, nur insofern eingegriffen, als dass es Wiederholungen gibt. Die Schauspielerin wechselt mitunter ihre Einstellung zum Text, ändert ihre Perspektive auf das Erzählte, mal hat sie eine fast hämische Distanz, mal verliert sie sich regelrecht im Text, manchmal wiederholt sie Dinge, als würde sie sich den Text selbst vergegenwärtigen müssen. Das ist alles durchkomponiert von Anfang bis Ende. Die Schauspielerin spricht fast die ganze Zeit, es gibt zwar auch Pausen, aber nicht im Sinne von Zwischenspielen, in denen nur die Musik im Vordergrund steht.

EM: Gibt es denn eine übergreifende musikalische Dramaturgie für die Szenen oder bist du beim Komponieren von Szene zu Szene fortgeschritten?


MH: Ich bin ja noch mittendrin. Natürlich gibt es Passagen, bei denen ich von Anfang an eine bestimmte Vorstellung hatte. Aber im Grunde ist es so, dass ich die Musik am Text entlang entwickele, dem Faden folgend, sozusagen. Den Faden der Klavierstimme habe ich dabei zuerst gesponnen, das Klavier liegt also mit dem Text schon komplett vor. Und jetzt gehe ich am Text und am Klavier entlang und komponiere nach und nach das gesamte Ensemble hinzu. Das Ensemble ist dabei relativ sparsam eingesetzt und manchmal erscheint es auch über längere Strecken überhaupt nicht, so dass es eine ganz besondere Bedeutung hat, wenn dann einmal ein Tutti kommt. Oder plötzlich kommt nur ein Ton vom Fagott oder die Oboe geht mit der Linie mit, die im Klavier vorgezeichnet ist, spielt aber nicht alle Töne des Klaviers. Oder es gibt kurze Einwürfe von Gruppen aus dem Ensemble, die einen Gedanken des Textes regelrecht in Szene zu setzen versuchen. Da gibt es sehr viele Möglichkeiten.

EM: Du arbeitest mit dem Regisseur Thierry Bruehl zusammen. Kannst du schon etwas zum Bühnenbild sagen? Wird die Idee des Spiegels oder des Labyrinths auf der Bühne aufgegriffen?


MH: Nein, das Labyrinth wird nicht dargestellt. Unsere momentane Idee sieht ungefähr so aus: Wir haben ein Rechteck auf der Bühne, drei Wände, zum Publikum hin offen, relativ groß – drei bis vier Meter hoch –, und in diesem riesigen leeren Raum befindet sich der Flügel und zwar so, dass der Spieler mit dem Rücken zum Publikum sitzt. Und auf den Wänden sitzt das Ensemble. Das kann am Ende aber alles noch ganz anders aussehen.

EM: Wenn man sich zu einem Stoff hingezogen fühlt, kann es sein, dass man ihn anziehend findet, abstoßend oder dass man sich selbst darin sieht. Warum interessiert dich gerade die Dürrenmattsche Sicht des Minotaurus?


MH: Dürrenmatts Bild ›Der entwürdigte Minotaurus‹, das er übrigens 1958 gemalt hat, also lange vor der Entstehung des Textes, gibt eine eindrückliche Ahnung von dem, um was es gehen könnte und was mich von Anfang an angezogen hat. Eine Geschichte, die zutiefst menschlich ist. Ein schwergewichtiges, zeitloses und uraltes Thema. Und doch lässt sich die Geschichte in vielerlei Hinsicht deuten und verstehen.
Dass der Minotaurus der Verlierer in der Geschichte ist, ist natürlich bezeichnend. Vielleicht sind die Geschichten der Geschichtsverlierer eben doch die wichtigeren und eindringlichsten. Und dass der Geschichtsgewinner dann dessen Geschichte erzählt, ist auf eine Art ja auch der Hohn der Geschichte.