Urauffühung des Musiktheaters Wasser

Ein Gespräch mit Arnulf Herrmann

Mit Arnulf Herrmann verbindet das Ensemble Modern seit mehreren Jahren eine enge Zusammenarbeit: Als Teilnehmer der ersten Auflage des Internationalen Kompositionsseminars im Jahr 2004 komponierte er für das Ensemble Modern ›Anklang‹. Es folgten (Ur)aufführungen der Auftragswerke ›Terzenseele‹, ›Monströses Lied‹, ›Fiktive Tänze‹ und ›ROOR‹ u.a. im Konzerthaus Berlin, bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik und den Donaueschinger Musiktagen. Im vergangenen Jahr erschien eine Porträt-CD des Komponisten mit dem Ensemble Modern bei WERGO. Nun entstand auf Initiative des Ensemble Modern Arnulf Herrmanns erstes Musiktheaterwerk mit dem Titel ›Wasser‹. Die Koproduktion des Ensemble Modern, der Münchener Biennale und der Oper Frankfurt wird im Mai 2012 in der Muffathalle in München uraufgeführt und ist anschließend im Frankfurt LAB zu erleben. Das Ensemble Modern (EM) sprach mit Arnulf Herrmann (AH) über die Herangehensweise an dieses Projekt, die Entstehung des Werks und die Zusammenarbeit mit dem Lyriker Nico Bleutge, der Regisseurin Florentine Klepper und der Bühnenbildnerin Adriane Westerbarkey.

EM: Der Plan für ein gemeinsames Bühnenwerk schwebte ja schon eine ganze Weile im Raum. Wie bist du an diese Herausforderung herangegangen und welche Überlegungen hattest du zu Beginn?

AH: Ich glaube, es war im Frühjahr 2007, als wir das erste Mal über diese Idee sprachen. Dieser frühe Zeitpunkt hatte für mich den großen Vorteil, dass das Projekt »Musiktheaterwerk« bei mir – auch bei der Komposition anderer Stücke – über einen längeren Zeitraum im Hintergrund mitlaufen konnte. Denn jenseits von Fragen nach dem Sujet, der Besetzung etc. ging es für mich zuerst einmal darum, zu klären, wie meine Arbeitsformbei der Komposition eines Bühnenwerks aussehen könnte.
Die Überlegungen hierzu habe ich
in eine Art Entwurf gefasst, den ich immer wieder umgearbeitet, ergänzt, erneuert habe. Das war ein längerer Prozess, in dem sich allmählich meine Gedanken klärten.

EM: Kann man sagen, dass du eine Affinität zum Musiktheater hast?

AH: Die Verbindung von Musik und Szene hat mich immer interessiert.
Es war für mich letztlich nur eine Frage der Zeit, bis ich mich zum ersten Mal mit Oper bzw. Musiktheater auseinandersetzen würde. Zudem: Mit jeder Besetzung, vom Solostück bis zum großen Orchester, verschieben sich auch kompositorische Fragestellungen. Diese Verschiebungen suche ich sehr gezielt, da sie meine Arbeit bereichern, was bei einem Bühnenwerk natürlich ganz besonders der Fall ist.

EM: Inwiefern unterscheidet sich für dich die Arbeit an einem Bühnenwerk und an rein instrumentaler
Musik?

AH: Zum einen schlicht durch den Umfang. Denn es gilt ja, eine musikalische Form für eine wesentlich größere Zeitstrecke zu entwickeln. Der große Unterschied ist aber natürlich die Einbeziehung von Text bzw. Stimme und Szene. Hierin lag eine besondere Herausforderung, gerade weil es mir wichtig war, den Text nicht nur zu zerlegen, sondern ihn wirklich singen zu lassen. Dafür musste ich Wege finden.

EM: Wie muss man sich diesen Prozess vorstellen? Und wie verlief die Themenfindung?

AH: Zuerst habe ich – wie gesagt – über einen längeren Zeitraum einfach nur gesammelt. Letztlich war es eine Annäherung von verschiedenen Seiten. Ich hatte nicht den einen, ganz bestimmten Stoff, den ich schon immer einmal vertonen wollte. Vielmehr gab es einen Pool von Ideen, von dem ich ausgegangen bin. Alle diese Ideen waren von vornherein so angelegt, dass sich in ihnen musikalische und szenische Elemente eng verschränkten. Ein Beispiel hierfür ist das Tenorlied, in dem der Sänger vom Ensemble und einer dezentrierten (eiernden) Schallplatte begleitet wird. Inhalt, Szene und Musik sind darin eine untrennbare Einheit. Auf der anderen Seite gab es allgemeine kompositorische Fragen, die z.B. die Form der Oper oder die Behandlung der Gesangsstimmen betrafen. Aus diesen unterschiedlichen Blickwinkeln habe ich am Ende eine Szenenfolge entwickelt, die die Handlung bereits in den wesentlichen Punkten umrissen hat. Nach diesem Schritt habe ich schließlich an der Stelle zu komponieren begonnen, über die ich schon am meisten wusste. So gab es ein für mich fruchtbares Spannungsfeld: einerseits allgemeine Überlegungen, andererseits eine konkrete Szene mit Musik. Im Wechsel zwischen diesen beiden Polen, der Vogelperspektive und der Nahsicht, hat sich dann das Stück allmählich entwickelt. Aber natürlich habe ich das ab einem ge-wissen Zeitpunkt nicht alleine, sondern im engen Dialog mit Nico Bleutge gemacht, der den Text der Oper geschrieben hat bzw. schreibt. Dabei haben wir den Text immer in Bezug auf die jeweilige musikalische Form der einzelnen Szene entwickelt. So sind z. B. im Verlauf der Arbeit ganz verschiedene Typen von Melodik entstanden, die die Kompositionstechnik, den Text und den Inhalt der Szene möglichst eng miteinander verzahnen.

EM: Wie ging denn diese Arbeit an Textbuch und Komposition vonstatten, was ist wann entstanden und hat worauf reagiert?

AH: Nico und ich haben uns zu Beginn immer wieder getroffen, ohne bereits konkret am Text zu arbeiten. Dabei haben wir versucht auszuloten, wie wir den Arbeitsprozess für uns gestalten wollen. Ich zum Beispiel wollte nie an den Punkt kommen, einfach einen Text vertonen zu müssen. Vielmehr wollte ich Text und Musik unbedingt parallel entwickeln. Das kann auch bedeuten, dass der Text zum Teil erst auf die Musik hin entwickelt wird. Ebenso hatte Nico bestimmte Vorstellungen, was seine künstlerischen Spielräume betrifft. In diesen Punkten haben wir uns allmählich einander angenähert und das wurde umso einfacher, je weiter wir im Arbeitsprozess vorankamen. Nico ist ein extrem präziser, skrupulöser Autor. Und es war interessant zu sehen, wie genau er auf die Provokationen aus der Musik reagiert und dann seine eigenen Varianten dem angepasst oder entgegengestellt hat.

EM: Und wie verläuft der Schritt der Inszenierung – die gemeinsame Arbeit im Team mit der Regisseurin Florentine Klepper und der Bühnenbildnerin Adriane Westerbarkey? Wie fügt sich alles zusammen?

AH: Diese Zusammenarbeit beginnt jetzt eigentlich erst richtig. Da das Stück – zum Zeitpunkt dieses Interviews – noch im Entstehen begriffen ist, geht es im Augenblick in unserer Zusammenarbeit vor allem darum, einen Rahmen zu entwickeln, in dem das Ganze schließlich stattfinden soll. Hier gibt es natürlich ständig Gespräche zu allgemeinen Fragen der Handlung bis hin zu konkreten Fragen der Raumaufteilung im Bühnenbild. Diese sind erst einmal von großer Offenheit geprägt und funktionieren sehr gut. Ich werde mich sicher auch in Zukunft an den Gesprächen beteiligen, allerdings nicht mit dem Ziel, mich in alle Fragen der Inszenierung einzumischen. Es ist mir einerseits wichtig, meine Absichten und meine Deutung zumindest mitverwirklicht zu sehen, andererseits maße ich mir nicht an, das Metier der Regie bzw. der Inszenierung ebenfalls ausüben zu können; das ist einfach nicht meine Aufgabe. Das klingt aber mehr nach klassischer Arbeitsteilung, als es tatsächlich ist, da wir uns natürlich beständig austauschen. Nur: Jeder trägt am Ende die Verantwortung für seinen Bereich.

EM: Wir haben jetzt schon einiges über die Ideenfindung, die Arbeitsabläufe usw. gehört, aber noch gar nicht über die Handlung gesprochen. Worum geht es in ›Wasser‹?

AH: Die vordergründige Handlung ist eigentlich ganz einfach: Ein Mann erwacht vollkommen desorientiert in einem Hotelzimmer und erinnert sich an nichts mehr. Er betritt die Empfangshalle des Hotels, in dem sich eine Abendgesellschaft zusammen-gefunden hat. Hier ist ebenfalls alles seltsam verschoben: Er hat das Gefühl, die Personen eigentlich kennen zu müssen (sie zumindest scheinen ihn zu kennen), doch seine Erinnerung versagt auch hier. Im Zentrum steht dabei eine Frau, mit der ihn scheinbar etwas verbindet. Aber alles, was kurzzeitig greifbar erscheint, zerrinnt ihm buchstäblich zwischen den Fingern, bis am Ende schließlich das ganze Szenario versinkt bzw. sich auflöst. Jenseits dieser Handlung haben Nico und ich verschiedene, von uns so genannte »Lesarten« definiert. Das sind zum einen psychologische Deutungsmöglichkeiten, die für uns bei der Entwicklung der Figuren relevant waren, von der offensichtlichen Trau-matisierung des Protagonisten bis hin zu seinem Ich-Verlust. Zum anderen spielen mythologische Hintergrundfolien mit hinein, wie der Orpheus-Mythos, der bei uns in der Mann-Frau-Konstellation angelegt ist und der einen unwiederbringlichen Verlust beschreibt, oder der Mythosder Nymphe Echo, die über ihren Sprachverlust jeden Bezug zur Welt verliert. Der Vordergrund zeigt also im Idealfall eine recht einfache Handlung, im Hintergrund entsteht ein Kaleidoskop von Bedeutungen, die angelegt, aber nicht notwendigerweise auserzählt sind.

EM: Es gibt zudem sogenannte »Traumszenen« in ›Wasser‹. Wie sind diese in kompositorischer Hinsicht gestaltet?

AH: Da muss ich ein paar allgemeine Worte zum Aufbau vorausschicken: ›Wasser‹ besteht aus 13 Szenen, die alle nahtlos ineinander übergehen. Vereinfacht gesagt gibt es zwei verschiedene Arten von Szenen: solche, die mehrmals – allerdings stark variiert – vorkommen, und solche, die nur einmal vorkommen. Alle Szenen haben ganz eigene Charakteristika, so auch die Traumszenen (eigentlich: »Alp«-Traumszenen), die zu den wiederkehrenden Szenen gehören. Ganz im Vordergrund gibt es in den Traumszenen z.B. stets einen sehr auffälligen Klang in der Live-Elektronik, der durch das Kontraforte erzeugt wird. Doch das ist nur die Oberfläche. Die Besonderheiten erstrecken sich letztlich in alle kompositorischen Bereiche, wie die Harmonik, die Zeitbehandlung, Klangregister etc. – und natürlich auch in den Text.

EM: Und wie wird das in der Folge auf der Bühne umgesetzt?

AH: Hier gibt es von meiner Seite erst einmal nur wenige konkrete Vorgaben. Für mich ist von zentraler Bedeutung, dass ich das Besondere einer Szene oder eines Szenentyps nicht nur einfach im Titel der Szene behaupte, sondern dass ich vielmehr auf allen Ebenen, die mir kompositorisch zur Verfügung stehen, eine Form, einen Ausdruck für eine bestimmte Situation finde. In diesem Fall also für eine bestimmte Form von Alptraum. Wenn mir das gelingt, so ist das meiner Ansicht nach die steilste Vorlage, die ich als Komponist einer Regie bieten kann. Wie ein Regisseur bzw. eine Regisseurin da- rauf reagiert, kann ich dann ohnehin nur noch mittelbar beeinflussen. Ich verlange aber natürlich unbedingt, dass eine Auseinandersetzung mit der Partitur bzw. diesen Gedanken bei der Inszenierung stattfindet.

EM: Du hast den Einsatz von Live-Elektronik angesprochen. Wie wird sie genutzt? Wie sieht die Besetzung insgesamt aus?

AH: Zunächst zur Besetzung: Es sind 20 Musiker, also quasi das gesamte EM, zudem einige Verdopplungen im Holz und bei den Streichern. Als Stimmen habe ich in den Hauptrollen Sopran und Bariton, zudem einen vier- stimmigen Männerchor, der in ganz verschiedenen Funktionen eingesetzt wird, und eine Knabenstimme, die zugespielt wird. Die Live-Elektronik ist stets ganz klar an bestimmte Situationen oder szenische Aktionen gekoppelt. Es gibt immer eine szenische Notwendigkeit. Neben dem bereits erwähnten Kontraforte in den Traumszenen sind dies z. B. spezielle (live) gezupfte Saitenklänge und eine dezentrierte (eiernde ) Schallplatte. Ich habe das große Glück, dass ich die Live-Elektronik gemeinsam mit Josh Martin vom elektronischen Studio der Akademie der Künste in Berlin entwickeln kann. Er ist bei der Arbeit eine unschätzbare Hilfe für mich.

EM: Du warst auch mit den Musikern des Ensemble Modern während des Kompositionsprozesses im engen Austausch. Hat sich das auf deine Arbeit ausgewirkt?

AH: Ja, vor allem durch kurze Wege. Es ist ein Geschenk, wenn ich Fragen, die im Kompositionsprozess auftauchen, sofort mit den Musikern besprechen kann. Da wird dann durchs Telefon vorgespielt, es werden Auf- nahmen hin- und hergeschickt oder wir treffen uns persönlich. So etwas ist natürlich ganz wunderbar. Zudem herrscht – nachdem ich mit dem Ensemble mittlerweile ja in gewisser Weise ein Stück gemeinsame Geschichte habe – zwischen uns ein gegenseitiges Vertrauen, das in der Zusammenarbeit vieles sehr vereinfacht.

EM: Vielen Dank für das Gespräch!