Ueli Wiget, Pianist im Ensemble Modern

Faible für dichte Strukturen

In nuce wendet Ueli Wiget da seine Wahrnehmung von und Erfahrung mit dem EM nach außen, die nach seiner Meinung in der Kammermusik des griechischen Komponisten Nikos Skalkottas (1904 - 1949) zu erkennen sind. Er begründet seine Entscheidung für dieses ziemlich vernachlässigte Repertoire so: "Das "Cycle Concert" ist atypisch für Kammermusik, denn es hat merkwürdige Klavier-Kombinationen, nämlich je einen Duo-Satz mit Oboe, Fagott und Trompete sowie als entr'actes je ein Quartett für Klavier und Bläser. Schon dadurch eckt es an. Der Stil von Nikos Skalkottas ist störrisch und eigenartig, hat aber eine starke traditionelle Linie, sodass eine gewissen Akzeptanz erwartet werden kann. Deshalb ist dieses Programm zugleich ein Kennzeichen des EM, obwohl wir sehr oft dirigiert werden." Nun ist das EM in den einzelnen Instrumentalstimmen solistisch besetzt, deshalb kategorisch kein Orchester, sondern eine kammermusikalische Konfiguration. Es gibt nur selten chorische Funktionen, etwa wenn das EM zum EM Orchester erweitert wird.

Per se ist das EM mobil und variabel, kann Kammermusik in allen denkbaren Dispositionen (Klaviertrio, Klavierquintett usw.) spielen. Die Funktion des einzelnen Musikers ist nicht strikt festgelegt, die Rollenverteilung kann sich je nach Komposition ändern. "Für mich als Pianist habe ich Aufgaben vom Basso continuo über integrale Klavierparts, bis zum Solisten. So bin ich im EM genug beschäftigt, bin fast immer in vollem Einsatz und dadurch zufrieden", begründet Ueli Wiget seine Treue zum EM. "Ausserdem ist ein nicht zu überbietendes Plus, dass wir mit Komponisten direkt zusammenarbeiten. Daraus resultiert ein ganz anderes Verständnis der eigenen Tätigkeit, weil man mit frischen Notentexten konfrontiert wird."

Im Jahr 1985 spielte Ueli Wiget das erste Mal mit dem EM, als es weder professionell organisiert war, noch eine klar Perspektive zu einer festen Formation hatte. "Als ich noch in Ungarn studierte, 1986, hatte ich die Einladung bekommen, mich mit Wohnsitz in Frankfurt am Main dem EM anzuschließen. Das Ziel war schon damals, dominant Neue Musik in Kammerbesetzung aufzuführen, wofür die Kammersinfonie von Arnold Schönberg ein Modell war. Das Werk ist exemplarisch für die EM-Intentionen, denn es integriert drei Ebenen: es ist orchestral, zugleich kammermusikalisch und auch solistisch konzipiert."

Folgende Episode illustriert, wie herausfordernd die Aufgaben im EM sein können: "Um mich beim EM zu engagieren, war das Faktum Kammermusik entscheidend, nicht, ob man Neue oder nicht so neue Musik macht. Und da gab es ein Schlüsselerlebnis. Während meines ersten Projekts mit dem EM haben wir die Suite op. 29 von Arnold Schönberg einstudiert und dann noch die Uraufführung eines Werks von András Hamary, ein Pianist und Komponist aus Ungarn. Er hatte eine Klavierpartie geschrieben, wobei ein sehr tiefer Akkord, fast ein Cluster, mit zehn verschiedenen Flageolett-Positionen zu bedienen war, indem man direkt in die Klaviersaiten hineingreifen musste. Nun sind die Flageolett-Positionen auf den Saiten abhängig von der Größe des Klaviers, die Punkte bei einem großen D-Flügel sind weiter hinten als bei einem kleineren B- oder A-Flügel. Erschwerend kam hinzu, dass ich in Budapest, wo ich mich vorbereitete, einen Flügel mit Wiener Mechanik hatte, bei dem die Dämpfer in einem Kasten über den Saiten verborgen sind, sodass die Saiten fast vollständig abgedeckt waren und ich sie nicht erreichen konnte. Ich habe also dieses Werk erst richtig bei der Probephase üben können. Und das war Knochenarbeit, denn ich hatte drei Sichtachsen, die nicht übereinander zu bringen waren: auf die Noten, auf den Dirigenten, der die wechselnden Taktarten vorgab, und auf die Klaviersaiten. Um damit klarzukommen, bin ich jeden Morgen um halb vier aufgestanden und habe so fünf Tage dieses Werk von András Hamary geübt - anders hätte ich es nicht geschafft. Und danach erschien die Suite von Arnold Schönberg, mit gespreizter Dodekaphonik sehr extrem komponiert, so klar wie eine Invention von Johann Sebastian Bach. Das war damals für mich ein Aha-Erlebnis, denn ich hatte gelernt, dass neu nur bedingt neu bedeutet."

In Budapest hat Ueli Wiget von 1983 bis 1986 bei György Kurtág und Zoltán Kocsis an der Liszt-Akademie studiert. Ersten Klavierunterricht erhielt er im Alter von 10 Jahren bei Klaus Wolters, "weil meine ältere Schwester Klavier spielte. Was sie gelernt hatte, also Arabesken von Claude Debussy und andere Werke, konnte ich ohne Noten nachspielen. Für sie war das der Grund aufzuhören und für mich die Einladung, mich auf das Klavier einzulassen. Ein anderes Instrument stand damals nicht zur Debatte." Weil es zu seiner Gymnasialzeit in der Schweiz noch das Konservatoriums-System (ähnlich wie in Frankreich) gab, war der Übergang vom humanistischen Gymnasium zum Musikstudium für Ueli Wiget fließend, zumal er als begabt und Schnellstarter aufgefallen war. Seine Ausbildung dort war solide, etwa im Solfeggio-Unterricht. Doch Ueli Wiget blieb nicht in der Schweiz, sondern bewarb sich 1978 um einen Studienplatz in Hannover bei Hans Leygraf. Die wichtigsten Argumente dafür waren, dass es in Deutschland keine Studiengebühren gab und die Musikhochschulen größer waren sowie eine internationale Klientel hatten. Die Möglichkeiten, andere Ausbildungsmethoden und Menschen aus anderen Ländern kennenzulernen, waren für ihn ebenso wichtig wie die dadurch gelockerte künstlerische Atmosphäre.

Über seine Lehrer sagt er: "In Hannover war ich nicht bei Karl-Heinz Kämmerling, der zu der Zeit nur deutsche Studenten hatte, sondern bei Hany Leygraf. Er war der bedeutende internationale Klavierlehrer in Deutschland und man war stolz darauf, bei ihm studieren zu dürfen. Er hat seine Studenten unterstützt, sie zu Wettbewerben geschickt, und wenn sie, wie ich, mit Preisen wieder zurückkamen, erhielten sie Extra-Unterricht bei ihm privat zu Hause in Salzburg. Das war ein in die Klasse eingebautes Meritensystem. Hans Leygraf war ein Lehrer mit eigenwilligen Rezepturen, wie ein Apotheker fürs Klavier. Er beschäftigte sich damit, wie man dem Klavier physisch begegnen kann, und hatte ein sehr ausgetüfteltes Konzept zur Anschlagskultur entwickelt, das er ausgezeichnet vermitteln konnte. Man konnte lernen, den gewünschten Klang zu anzusteuern, aber nicht, dass Musik bestimmte Charakteristika wie Traurigkeit oder Freude hat. Die Situation in Budapest war total anders. Da fand das Studium, wofür ich ein Stipendium aus der Schweiz hatte, nach sozialistischen Prinzipien statt. Genauer gesagt, man war primär am Institut akkreditiert, nicht einem bestimmten Lehrer zugeordnet, sodass man auch Kontakt zu anderen Professoren haben konnte. In Hannover wäre das ein Sakrileg gewesen. Auch interessierten sich weder György Kurtág noch Zoltán Kocsis für internationale Wettbewerbe, obwohl ich am Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau oder am Bach-Wettbewerb in Leipzig teilgenommen hatte. Und zwar deshalb, um mir jeweils neues Repertoire anzueignen und nicht zu stagnieren. Nun, György Kurtág war damals als Komponist in Ungarn ein Geheimtipp und eine graue Eminenz. Von ihm wusste man, dass er ein ganz hervorragender Kammermusiklehrer mit der Neigung zu exzessiver Personenkritik war. Ich war sein einziger Student für Solo-Klavier. Er hat, wie bekannt, vor allem analysiert, sodass ich mit ihm die Sonate Nr. 8 von Sergej Prokofiew mehr als neun Monate untersuchte und probierte. Das war Millimeterarbeit an der Partitur. Dagegen war Zoltán Kocsis am Dialog nur interessiert, wenn man mit ihm auf gleichem Niveau war, ein absolut geniales Gehirn. Er hatte die gesamte Notenliteratur abrufbereit im Kopf, nicht nur für Klavier, auch die Sinfonik und vieles von der Kammermusik. Wenn man eine Beethoven-Sonate vorspielte, musste man fähig sein, seiner abweichenden Argumentation Paroli zu bieten, sonst brach er den Unterricht ab. War man gut vorbereitet, dann hat ihn das sehr gefreut und der Unterricht konnte vier Stunden dauern. György Kurtág und Zoltán Kocsis waren diametral verschieden. Aber gerade deshalb habe ich viel gelernt. Nimmt man noch Hans Leygraf hinzu, dann hatte ich eine optimale Besetzung für meine Ausbildung."

Im EM sind diese divergierenden Erfahrungen für Ueli Wiget von Vorteil: "Wir sind ziemlich familiär, akzeptieren andere, ja konträre Meinungen. Darin, welche Werke aufgefürt werden sollen oder nicht, sind wir uns nicht immer alle einig, diskutieren kontrovers. Doch diese Debatten sind unsere Stärke, damit identifiziere ich mich und ich möchte sie als Merkmal des Interpretationsstils im EM propagieren." Auch ist die europäische Musik aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, ein Kern des EM, eigentlich weggeschoben worden. "Da ist viel in der Rezeption nachzuholen. Und die Klavier- und Kammermusikwerke von Nikos Skalkottas sind insofern relevant für mich, weil man trotz berstendem Klaviersatz und akkordischer Dichte eine, manchmal filigrane, Struktur heraushören kann. Und gerade dieser Aspekte der orchestralen Suggestion und des polyphonen Klangs haben für mich als Pianist eine ungebrochene Faszination."