Die westliche Welt muss dem Anderen Raum geben

Doris Kösterke im Gespräch mit Saed Haddad

Saed Haddad wurde 1972 in Zarka/Jordanien geboren und lebt heute in Deutschland. Er studierte Philosophie in Belgien, danach Komposition in Jordanien, Israel und Großbritannien (PhD bei George Benjamin) und besuchte u. a. Meisterklassen von Louis Andriessen, Helmut Lachenmann und Pascal Dusapin. Seine Musik wurde von Europas renommiertesten Ensembles, Orchestern und Festivals aufgeführt. Haddad, der Gastlehrer an vielen Universitäten Europas war, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter «Le prix de Rome» 2008·2010. In seinen Arbeiten erforscht er seine Identität als «Anderes» im Spannungsfeld westlicher und arabischer Traditionen - zugleich Teil von ihnen und Außenseiter. Gerade erschien seine erste CD in der «Edition Zeitgenössische Musik» des Deutschen Musikrats. Doris Kösterke hat ihn für uns befragt.

Saed, du bist in einer christlichen Familie in Jordanien aufgewachsen ...

... geboren, aufgewachsen in einem katholischen Seminar nahe Bethlehem ...

... hast später in Leuven Philosophie und dann in Jerusalem und London Komposition studiert. In deinem Heimatland wird deine Musik bisher kaum als Musik akzeptiert. Nach so viel Minderheiten-Dasein ist «der Andere» zu deinem Markenzeichen geworden. Wie fühlt es sich an, immer «der Andere» zu sein?

Unabhängigkeit und Freiheit...

In Les Deux Visages de l'Orient berufst du dich ausdrücklich auf Edward Saids engagiertes Buch Orientalism. Darin stellt Said dar, wie selbst die um Wissenschaftlichkeit bemühte Orientalistik bewusst oder unbewusst dazu tendiert, den Orient (laut Said ohnehin nicht mehr als ein fragwürdiges Gedankenkonstrukt) zu unterwerfen und zu beherrschen. Dass du diesen Gedanken aufgreifst, legt nahe, dich als «politischen Komponisten» zu verstehen. Aber du verwahrst dich dagegen. Warum?

Weder als Mensch noch als Komponist interessiere ich mich für Politik. In Les Deux Visages de l'Orient hört man keine «political statements», sondern Klänge, die etwas über Dualität (deshalb «Deux») zu sagen versuchen und die manchmal von einigen arabischen Maqamat (deshalb «I'Orient») strukturiert sind. Ich möchte betonen, dass die Nutzung der Maqamat eine balancierte existenzielle Synthese zwischen den arabischen und westlichen Kulturen zu erreichen versucht, eine Synthese, die jenseits von Exotismus, Trivialität, Tourismus, Postmodernismus und auch jenseits der westlichen «Abstraktion» geschaffen wird. Dabei bezieht sich das Wort «1'Orient» direkt auf «meinen» Teil des Orients, d. h. nur auf die arabische Kultur. Also ist «1'Orient» in meinem Titel nicht die falsche, im 19. Jahrhundert geprägte Idee der orientalistischen exotischen Angleichung der verschiedenen unterschiedlichen Kulturen des Orients. Deine Meinung, dass meine Musik etwas zu sagen hat, ist korrekt, ich muss aber betonen, dass meine Musik die Hintergründe und Konzepte in Richtung einer anderen transzendentalen Sphäre überschreitet: Das «Etwas-zu-sagen-haben » hängt von dieser Transzendenz ab. Komponieren ist für mich eine Art von Umgestaltung/Verklärung/Transzendenz. Musik ohne Transzendenz ist wertlos!

Die Begegnung mit anderen Kulturen hat schon immer und nicht nur in Europa dazu geführt, dass man Dinge übernommen hat, die wiederum die eigene Kultur geprägt haben. Im Falle der arabischen Zahlen, des Kaffeetrinkens, bei Anleihen in Literatur, Architektur und Musik wurde «das Andere » zwangsläufig «durch die eigene Brille gesehen» und auf die eigenen Verhältnisse «heruntergebrochen». Wo ist die Grenze zwischen dem Wünschenswerten, dem Vertretbaren und dem nicht mehr Tragbaren?

Zum einen darf man nicht vergessen, dass die Zeit des Exotismus oder des kulturellen Tourismus in dieser multikulturellen Welt beendet sein sollte: Die Nutzung einer anderen Kultur evoziert jetzt bestimmte Verantwortlichkeiten! So sollte die Verantwortlichkeit eines Komponisten/Musikers bei der Verwendung der anderen Kultur angesprochen werden, wenn er z.B. die Kenntnis des Anderen bewusst total negiert, wenn er Interesse an nur fragmentarischer Kenntnis hat oder wenn er die Kenntnis des Anderen doch behauptet. Im letzten Fall muss er die originale Quelle der anderen Kultur studieren, reisen, intensiv erfahren usw. Manchmal müssen auch verschiedene Quellen verglichen/geprüft werden, um genaue Kenntnisse zu erhalten. Die Reduktion der eigenen Nachforschungen auf nur eine Quelle, Irrtümer wie «Reisen ist jetzt nicht mehr wichtig, weil das Internet über alles informiert», oder die Nachfrage bei einem einzelnen Angehörigen der anderen Kultur, den man zufällig kennt und der alle Fragen erschöpfend beantworten soll, sind leider Symptome einer Faulheit, die am meisten zur Unwissenheit hinsichtlich einer anderen Kultur führt. Die Kenntnis einer Kultur braucht doch tiefere Erfahrungen dieser komplexen anderen Existenz. Meiner Erfahrung nach haben die meisten Europäer - auch nach intensivem Studium einer anderen Kultur - nicht immer die richtige Wahrnehmung dieses Anderen. So hat auch Edward Said argumentiert, dass sich trotz der Entwicklung der westlichen Kenntnis und Wissenschaft die westliche Wahrnehmung der anderen Kulturen nicht parallel entwickelt hat! Manchmal erlaubten sich Komponisten und Musiker, obwohl ihnen diese Problem bewusst ist (oder nicht), substanziell oder oberflächlich die Nutzung einer anderen Kultur. Manche Nutzungen wären noch "in Ordnung» wegen der großen Zurückhaltung, ihrer Harmlosigkeit oder der Nutzung reiner Spuren. Jedoch können andere Nutzungen, insbesondere, wenn eine solche substanziell und synthetisch orientiert ist und durch die Akklamation von Kenntnis gestützt wird, nicht nur falsch sein, sondern auch zu katastrophaler Entfremdung von kulturellen Werten führen! Wer entscheidet denn über die Richtigkeit und Wahrhaftigkeit einer Nutzung des Anderen? Ich sage: Die Werte und Kriterien der anderen, benutzten Kultur im Zusammenspiel mit den Intentionen/Haltungen/Einstellungen des westlichen Komponisten/Musikers und das «Ergebnis» seines westlichen Musikmachens entscheiden dies. Dabei möchte ich hier gar nicht auf eine provokante und bewusst zerstörerische Nutzung eingehen. Meistens sind die westlichen Nutzungen des Anderen nicht an den Werten der benutzten anderen Kultur geprüft, mit allgemeiner westlichen Unkenntnis rezipiert und mit dem westlichen Positivismus und politischer Korrektheit sogar «gefeiert» worden wegen der «Tres a la mode»-Themen wie etwa «Globalisierung», «Wahlverwandtschaften», «Multikulturismus», «Grenzenlosigkeit», «Kulturaustausch», die das Ergebnis der scheinbaren Annäherung an das Andere zu sein scheinen, die im 19. Jahrhundert noch so fern schien. Die Konsequenz des Durcheinanders von Multikulturismus, «Annäherung» an das Andere, Unwissenheit/Kenntnis, Faszination, Freiheit des Komponisten, Fähigkeit der westlichen Wahrnehmung, politische Korrektheit usw. ist, dass die westliche Kultur die falsche «Lizenz» eines Kulturrelativismus erhält. In diesem Kulturrelativismus dürfen die Europäer aufgrund ihrer Ausflüchte, etwa der «Relativität» ihrer westlichen, «nicht immer korrekten» Wahrnehmungsfähigkeit des Anderen, ihrer «bescheidenen» Kenntnis des Anderen, ihres westlichen künstlerischen Habitus und ihren «Kulturmoden» machen, was sie wollen. Die falsche Verwendung des Anderen in der westlichen Kultur heutzutage macht den Anderen fremder und entfernt ihn unbeabsichtigt weiter als im 19. Jahrhundert. Die Erschaffung eines Anderen durch den Westen im 19. Jahrhundert, der nichts zu tun hatte mit dem wahren Anderen, darf in unserer «kenntnisreichen», reich an Möglichkeiten der Kenntnis des Anderen, multikulturellen Zeit nicht passieren. In dieser Zeit muss die westliche Welt endlich den Anderen als eine andere Existenz akzeptieren und diesen Anderen wahrheitsgemäß kennen lernen, nicht so, wie die westliche Welt ihn haben möchte, sondern so, wie der Andere in Realität ist. Die westliche Welt muss dem Anderen den Raum geben, um sich in allen Facetten auszudrücken, anstatt ihn zu konsumieren.

Der Exotismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war nicht zuletzt Ausdruck des Unbehagens an der eigenen, der europäischen Kultur; die Sehnsucht, im Anderen etwas zu finden, das in der eigenen Kultur verloren gegangen war oder unterdrückt wurde. In diesem Sinne bringt deine Musik etwas in den europäischen Neue Musik-Betrieb, das es bis dahin kaum gab: Sinnlichkeit. Hier in Deutschland war eine affirmative Sinnlichkeit der neuen Musik aus geschichtlichen Gründen problematisch, denn man hatte die Erfahrung aufzuarbeiten, dass «schöne» oder «erhabene» Musik zu politischen Zwecken missbraucht worden war. Du kommst aus einem anderen Kulturkreis, musst an dieser Bürde nicht mittragen. Deshalb darf deine Musik so sinnlich sein.

Ich verwirkliche Sinnlichkeit nicht als ein Element meines Komponierens. Ich persönlich glaube, dass «gute Musik» das Ergebnis einer balancierten Vereinigung zwischen wahrer Schönheit und transzendentaler Wahrheit ist. Schönheit ohne Wahrheit ist für mich wertlos wie Intellektualismus oder Wahrheit ohne Transzendenz.

Zu deinen Lieblingsideen gehört die Vereinigung von Schönheit und Absurdem...

Ich habe mich unter verschiedenen Gesichtspunkten mit dem Absurden beschäftigt, aber ich verstehe nicht, was daran ungewöhnlich wäre, wenn ich das Absurde und die Schönheit in einer Komposition vereinige; manchmal kann wahre Schönheit eine absurde Wahrheit sein oder eine transzendentale Wahrheit ein schönes Absurdes!

Du bist weltweit enorm erfolgreich, mit vielen Aufträge und Aufführungen. Wenn man deinen künstlerischen Lebenslauf betrachtet, gewinnt man den Eindruck, dass deine Musik auch von der deutschen Kulturförderung gut unterstützt wird: Die weitaus meisten Aufführungen deiner Werke fanden in Deutschland statt; wenn man den Kompositionsauftrag für 2011 mitzählt, bist du zum dritten Mal in Donaueschingen vertreten, und jüngst kam deine erste CD heraus. Kannst du damit zufrieden sein?

Zum Ersten messe ich «Erfolg» nicht an der Zahl von Aufführungen, an Prestige und Aufträgen, vielmehr ist wahrer Erfolg erreichte Qualität! Doch schätzen einige Einrichtungen der deutschen Kulturförderung, insbesondere das Ensemble Modern und Donaueschingen/Armin Köhler, meine Musik und haben mir mehrfach Aufträge gegeben; dafür bin ich sehr dankbar. Aber leider ist es nicht mit allen Kulturinstitutionen so: Zwar möchten einige «gute Musik», andere möchten jedoch einen Komponisten, der bereit ist, alle seine Rechte aufzugeben. Leider gibt es Komponisten, die, aus welchem Grund auch immer, einen solchen Faustischen Handel eingehen. Ich hoffe, dass eines Tages die Kulturinstitutionen aller Länder an die erste Stelle Kultur und Musik, also nicht ökonomische Umstände, stellen.

Was bedeuten dir private Förderer? Ich denke da vor allem an den Frankfurter Rechtsanwalt Ulrich Fischer, der den Kompositionsauftrag für In Contradiction unterstützt und dein Stück Funerailles finanziert hat. Er ist auch engagierter Gründungsvater des Unterstützungsvereins «Freunde des Ensemble Modern» und ich habe nicht den Eindruck, dass er dies zur Pflege seines eigenen Images tut.

Ich bin sehr dankbar für die ungewöhnliche Großzügigkeit von Ulrich Fischer, ebenso für die finanzielle Unterstützung der «Freunde des Ensemble Modern» und die der «Kunstfreunde Wiesloch». Eine andere Privatperson, die sich um die Realisierung zweier Kompositionsaufträge hinter den Kulissen verdient gemacht hat, ist Ulrich Gebhard. Private Förderer sind Geschenke des Himmels. Ich hoffe, dass sich derartiges privates Engagement weiterentwickelt, so dass Komponisten eines Tages auch auf diese Weise Unterstützung für Kompositionsprojekte finden können, die vielleicht nicht in Auftrag gegeben werden, jedoch für den Komponisten von großer Wichtigkeit sind.