Backstage Talk: Roland Diry - Ensemble Modern

In Frankfurt haben wir den Klarinettisten Roland Diry getroffen. Er ist Geschäftsführer des Ensemble Modern (EM), einem der weltweit führenden Ensembles für zeitgenössische Orchestermusik. Das EM, das ausschließlich Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zur Aufführung bringt, ist auch organisatorisch etwas Besonderes, und genau das interessiert uns: Ohne Chefdirigenten und künstlerischen Leiter entscheiden die Musiker über alle Angelegenheiten gemeinsam. Wie kann das funktionieren?

Herr Diry, als wir zu Ihnen gekommen sind, haben wir zunächst gedacht, wir wären bei einer Werbeagentur gelandet oder einem Verlag. Man sieht keine Instrumente, keinen Probenraum. Wie kommt das?

Roland Diry: Das Ensemble macht ca. 100 Konzerte im Jahr und zwar auf der ganzen Welt. Diese Konzerte müssen zunächst einmal von hier aus organisiert werden. Im Unterschied zu einem herkömmlichen Orchester gibt es bei uns keine feste Besetzung oder feste Bühnenaufbauten. Wir denken und planen für jedes Projekt neu. Was übrigens auch eines unserer Markenzeichen ist: Wir liefern Veranstaltern ein Projekt schlüsselfertig ins Haus. Salopp ausgedrückt heißt das: Der Veranstalter macht die Tür auf, wir fahren rein, stellen das Projekt auf die Bühne und fahren wieder raus.

Das Wort "modern" steckt ja schon im Namen des Ensembles. Was ist neu und modern an Ihnen – einmal abgesehen von der Musik, die Sie spielen?

Roland Diry: Im Kern sind wir eine Art Innovations-Inkubator, eine Institution, die das Neue immer wieder erfindet und ausprobiert. Das Ergebnis wird dann von anderen Musikinstitutionen übernommen. Gegebenenfalls. Wobei dieses "gegebenenfalls" zum einen eine persönliche Bewertung sein kann, oft ist es aber auch eine Frage der Realisierbarkeit. Denn einige unserer Projekte sind so einzigartig oder komplex, dass es einfach niemand sonst machen kann.

Neben Ihrer Musik macht Sie die Tatsache einzigartig, dass Sie als eine GBR vollkommen selbstständig über Ihre Belange entscheiden. Wie sieht das konkret aus?

Roland Diry: Das Ensemble hat weder einen Chefdirigenten noch einen künstlerischen Leiter. Das ist weltweit absolut einzigartig. Alle Entscheidungen werden von den 18 Gesellschaftern gleichberechtigt getroffen. Ob Projekte, Gastmusiker oder Dirigenten. Wir entscheiden alles selbst in unserer Gesellschafterversammlung.

Sind die Gesellschafter alle Musiker?

Roland Diry: Ja, bis auf unseren Klangregisseur sind alle Gesellschafter Musiker. Dieser Klangregisseur spielt bei uns aber eine ganz wichtige Rolle: Andere Musikinstitutionen mieten Klangregisseure oft nur projektweise hinzu. Bei uns ist er der Mensch, der dem Ensemble sozusagen seine ganz besondere Gesichtsfarbe gibt.

Wie sieht die finanzielle Seite aus? Mit neuer Musik erreichen Sie ja nicht gerade ein Millionenpublikum.

Roland Diry: Ein spannender Punkt, denn wir sind in der Tat keine städtisch, staatlich oder sonst wie abgesicherte Institution. Wir erhalten 13 Prozent institutionelle Gelder. Das entspricht ungefähr dem, was ein Opernhaus an der Abendkasse einnimmt. Und dazu gibt es bei uns keinen Mozart, keinen Verdi, keinen Wagner, sondern neue Musik. In der Konsequenz heißt das, dass wir Veranstalter finden müssen, die bereit sind, die vollen Kosten eines Projektes zu tragen.

Bedeutet das, dass Ihre Einzigartigkeit finanziellen Druck nach sich zieht?

Roland Diry: Keine Frage: Der Druck ist da und er ist auch nicht gering. Allerdings haben wir in der Vergangenheit hin und wieder auch einmal ganz bewusst Projekte für ein breiteres Publikum gemacht. Nehmen Sie zum Beispiel das große Frank Zappa Projekt von 1992, das für das Ensemble Modern wirtschaftlich ungeheuer wichtig war. Übrigens fanden wir es auch künstlerisch hoch attraktiv. Und heute, 17 Jahre später, wird es von Symphonie- und Opernorchestern auf der ganzen Welt gespielt. Das ist natürlich klasse, ein sehr geglücktes Projekt, was aber nicht immer der Fall ist, wenn man so radikal neue Dinge wagt.

Wie ist ihre einzigartige Organisationsstruktur entstanden?

Roland Diry: Entscheidend bei unserer Gründung war das Prinzip der selbstbestimmten Arbeit. Im Gegensatz zu den traditionell hierarchisch organisierten Orchestern wollten wir, die Musiker, selber über alle künstlerischen Fragen entscheiden. Über Projekte, Auftrittsorte, Dirigenten etc. Und eines war für uns immer klar: Sollte einmal jemand kommen und uns eine sichere Festanstellung anbieten, uns aber die Freiheit nehmen, selbst über Projekte, Dirigenten, die künstlerische Leitung etc. zu entscheiden, dann wäre unsere Antwort: Nein, danke!

Wie gehen Ihre Musiker damit um, wenn sie Angebote von "traditionellen" Orchestern bekommen?

Roland Diry: Wir haben in der Vergangenheit tolle Stellen besetzt. Da die Kulturen so unterschiedlich sind, sind das allerdings absolute Lebensentscheidungen. Manche kämpfen jahrelang mit sich, um so eine Entscheidung zu treffen.

Gibt es auch den umgekehrten Weg, dass Musiker aus großen Orchestern zu Ihnen kommen? Kommen die mit Ihren Strukturen überhaupt zurecht?

Roland Diry: Es gibt da einen interessanten Fall: Eines unserer Gründungsmitglieder wechselte zu einem der großen Symphonieorchester und ist dann nach 14 Jahren wieder zu uns zurückgekommen. Warum? Es war eine Entscheidung für unsere Struktur und für unser einzigartiges selbstbestimmtes Arbeitsumfeld. Jeder hier gestaltet sein Leben sehr individuell.
Zu unserer Struktur noch ein Beispiel. Bei unserer Jahreshauptversammlung gibt es ein besonderes Prozedere: Jeder Gesellschafter verlässt während der Tagung einmal den Raum und dann hat die Gruppe die Möglichkeit, offen über diese Person zu sprechen. Das geht meist recht schnell und derjenige kann nach ein paar Minuten wieder reinkommen. Wir hatten aber auch schon den Fall, dass jemand drei Stunden draußen war. Dieses Regulativ ist für uns unglaublich wichtig. Wir sind nur uns selbst gegenüber verpflichtet.

Das heißt auch, es gibt keine Hierarchien?

Roland Diry: Genau, bei uns gibt es keine Hierarchien. Wir haben nur drei Organe: Erstens die Gesellschafterversammlung, deren Entscheidungen für alle bindend sind. Zweitens eine Geschäftsführung, die das Ensemble nach außen vertritt, mit mir als Hauptgeschäftsführer. Und drittens drei weitere Geschäftsführer aus dem Kreis der Musiker. Sonst gibt es absolut keine Unterschiede – außer natürlich Erfahrungsunterschiede. Die Meinung von jemandem, der 30 Jahre dabei ist, hat sicherlich ein höheres Gewicht als die Meinung von jemandem, der gerade erst dazu gestoßen ist. Aber formell gibt es absolut keine Unterschiede, keine Weisungsbefugnisse, nichts.

Nach welchen Kriterien suchen Sie sich Ihre Dirigenten aus? Machtbewusste Dirigenten wie Karajan werden das wohl kaum sein, oder?

Roland Diry: Ein Dirigent der hierher kommt, weiß, dass er nicht von einer hierarchischen Verwaltungsstruktur eingestellt wird, sondern von den Musikern, mit denen er zusammen arbeitet. Und nach dem Projekt werden die entscheiden, ob sie noch einmal mit ihm zusammen arbeiten wollen oder nicht. Das erklärt eigentlich alles.

Herr Diry, Danke für das Gespräch.