OFFENE WUNDEN

Ein Interview mit Stefanie Wördermann und Helmut Oehring

EM: Am Anfang stand die Idee, dem Brecht/Weill’schen Mahagonny-Songspiel eine Neukomposition in gleicher Besetzung gegenüberzustellen. Was hat Sie an diesem Projekt besonders gereizt?

HOe: Seit einigen Jahren schon beschäftigt mich die Komposition von „Antwortmusiken“, das Aufnehmen und Verwandeln von bereits formulierten musikalischen Gestalten und Chiffren. Das ist wie Briefeschreiben, nur verschlüsselter und transformierter. Picasso und Matisse schickten sich gegenseitig Zeichnungen mit Figur und Jacke...

SW: Für uns ist das Mahagonny-Songspiel bereits eine mögliche Antwort auf die Gedichte und „Lieder“ Heinrich Heines. Auf die ihn drängenden Themen, die auch für Brecht und Weill höchst aktuell waren und für uns heute noch sind. Heine war seiner Zeit verdammt weit voraus, sein literarisches „Engagement“ war verdammt modern in dem erstmaligen Versuch, mit „schönen“ Worten in neuen Formen tatsächlich bestimmte Menschen zu erreichen und zum Handeln zu motivieren. Nach Heine, nach seinem Wintermärchen und den Zeitgedichten, hat erst wieder Brecht diese Art von „besseren Liedern“ geschrieben, die beides vereinen: Lyrik als Ausdruck, Dichtung als Agitationsmedium... In Weill hatte Brecht den genialen Partner, mit dieser Mischung aus avancierter Komposition und „Populärmusik“. Heine wurde bis heute tausendfach vertont, vielleicht hat aber bis jetzt nur Gustav Mahler die richtige Mischung aus Ästhetik und Banalität gefunden, die die Realität berührt...

EM: Ihr Stück nennt sich Die WUNDE Heine, der ganze Abend heißt OFFENE WUNDEN. Was ist nach Ihrer Ansicht bei Weill/Brecht und bei Heine offen, was schmerzt und blutet? Wie kommt es zu diesem Titel?

SW: Die „Wunde Heine“ geistert als Begriff durch die Literaturgeschichte, seit Adorno sie 1956 in einem WDR-Beitrag zu Heines 100. Todestag diagnostiziert hat. Für die restliche Welt galt und gilt Heine zwar als Superstar, in seiner Heimat Deutschland hatte man in den 100 Jahren nach seinem Tod aber alles dafür getan, ihn als „Aussätzigen“ abzuschieben. Die Nazis streuten dann Salz in die Wunde, für sie war Heine Keimzelle der kulturellen „Seuche“, die sie ausmerzen wollten u.a. in Werk und Person von Künstlern wie Weill und Brecht. Bei Heine vollzog sich die spätere Rehabilitation dann besonders kompliziert, wohl weil die deutsche Gesellschaft an vielem, was er damals in ästhetischer, politischer, gesellschaftlicher Hinsicht benannte, noch immer krankt. Um Adorno zu zitieren: Die „Wunde Heine“ wird sich erst schließen in einer Gesellschaft, in der sich die Versöhnung auf allen Ebenen vollzogen hat. 20 Jahre nach Mauerfall klingt das noch immer utopisch...

HOe: Nicht nur Menschen tragen Verletzungen durch Auseinandersetzungen in geistigen oder materiellen Räumen davon. Eine Stadt wie mein Geburtsort Berlin trägt bis heute klaffende Wunden, die sie durch die Jahrzehnte erlitten hat, durch die vielen Versuchsanordnungen menschlichen Miteinanders. Wunden sind Zeichen und Male des Scheiterns und auch des Siegens. In jedem Fall sind sie Gestalt von Verletzlichkeit, Auseinandersetzung und Inschriften, die zurückbleiben auf der Suche nach einem Sinn in diesem Leben.

EM: Sie beide nehmen im Rahmen der Produktion jeweils eine Doppelrolle ein: Frau Wördermann als Textbuchautorin und Regisseurin, Herr Oehring als Komponist und Regisseur. Wie lässt sich Ihre gemeinsame Arbeit als Regieteam beschreiben? Wie ist die Arbeit am Textbuch, der Komposition und der Regie vonstatten gegangen, was ist wann entstanden und hat worauf reagiert? Wie hat sich der ganze Abend für Sie zusammengefügt?

HOe: Zunächst einmal eint uns die inhaltliche Suche nach Gestalt und Verwandlung. Und soviel Themenbereiche, die ein jeder von uns bearbeiten möchte oder muss, finden sich ja gar nicht...

SW: Generell beginnen wir die Arbeit mit einer andauernden Diskussion ums jeweilige Thema, wir informieren uns und denken jeder für sich nach und sprechen dann darüber. Wobei uns weniger interessiert, was die Übereinstimmungen unseres Denkens sind, die wissen wir eh, sondern was wir beim anderen an Ungedachtem, Neuem, Fremden, Konträrem finden. Deshalb ist uns auch Heine so lieb, weil wir bei ihm auf Kontroversen und Disharmonien stoßen. Wenn uns auf diese Weise irgendwann klar geworden ist, was wir von unseren Gedanken bündeln und mitteilen wollen und in welcher Form, beginne ich mit dem Textbuch, das sich dann aber während Helmuts Kompositionsarbeit weiter entwickelt, verändert. Die visuellen Bilder, die szenischen Ideen kommen dabei automatisch. Eigentlich zeigt sich immer erst am Ende die definitive Form des ganzen Stückes. Im Fall von Die WUNDE Heine hatten wir allerdings von Anfang an durch die klare Songspiel-Struktur von Mahagonny eine Matritze vor Augen. Die Arbeit in Rastern wollen wir auch zum Prinzip der Probenarbeit machen...

EM: Zu ihrem Team gehört weiterhin der Graphiker und Maler Hagen Klennert, der für den Abend einen zweiteiligen Film mit grafischen und realen Elementen entwarf. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit? Welchen Stellenwert nimmt dieser visuelle Anteil an der Gesamtproduktion ein und wie verhalten sich die verschiedenen Ebenen (Musik, Inszenierung, Film) zueinander?

HOe: Ich kenne Hagen seit fast 20 Jahren, wir haben verschiedenste Produktionen miteinander erarbeitet, vertrauen und ergänzen uns. Der visuelle Anteil dieser Produktion ist hoch und gleichzusetzen mit dem musikalischen, textlichen und szenischen Potential.

SW: Wenn Hagen in Produktionen dabei ist, dann diskutieren wir in schon beschriebener Weise zu dritt. Hagens konkrete Arbeit am Film vollzieht sich dann als indiviuelle Reaktion auf Libretto und Partitur und bietet uns eine erste autonome Interpretation unserer Arbeit. Keine Bebilderung, sondern eine eigenständige, teils konträr verlaufende Ebene, auf die wir dann wiederum szenisch reagieren ...

EM: Die WUNDE Heine greift die originale Vokal- und Instrumentalbesetzung des Mahagonny-Songspiels auf, wird aber um die Figur des Harry, dargestellt durch den E-Gitarristen, Sänger und Performer Jörg Wilkendorf, erweitert. Wie lässt sich dessen Rolle verstehen? Hebt er sich durch eine eigene Klangsprache ab?

SW: Harry war der jüdische Geburtsname von Heine, er ist in Die WUNDE Heine unser Hauptprotagonist und der „geistige Vater“ des gesamten Abends. Heine ging in Leben und Werk einen ganz speziellen, unbequemen, schmerzhaften Weg zwischen Assimilierung und Distanzierung, in seiner Lyrik reibt sich Tradition mit Neuem und Modernem.

HOe: Vermutlich wäre Heine, würde er heutzutage leben, Rockgitarrist, Punk und Songwriter, Philosoph und Hausbesetzer... Jörg Wilkendorf muss bei uns als Harry switchen zwischen komponiertem Ensemble-Spiel und der Solo Performance als Rocksänger- und gitarrist, bei denen er Songs von Rio Reiser adaptiert, mit dem er zur Wendezeit auf Tour war...

EM: Wie gestaltet sich der Part der Sänger? Wie wird mit der Stimme umgegangen? Als Solisten konnten Salome Kammer, Sylvia Nopper und das ATRIUM Ensemble gewonnen werden. Warum sind diese Sängerinnen und Sänger die ideale Besetzung?

HOe: Sehr klar war von Anfang an, dass die musikalische Umsetzung der Sprache bei mir anders sein würde als bei Weill. Es sind knapp 90 Jahre vergangen und es ist einiges geschehen, wofür wir bis heute keine Worte finden...

SW: Wir hoffen, dass sich die individuellen Persönlichkeiten unserer Sänger und Musiker trotz unseres inszenatorischen „Raster-Denkens“ frei entfalten können und sich ein trotz unserer „strengen“ Vorgaben offener und spannender Dialog entzündet zwischen ihnen und dem Ensemble und Heine und Brecht und Weill und uns ...

HOe: Mit Offene Wunden betreten wir gemeinsam ein unbekanntes Land, einen Ort der Unsicherheit und des Unbehaustseins. Ich glaube, uns an dieser Produktion Beteiligten eint der Glaube ans Verwandelnkönnen, an die Möglichkeit, mit der Kunst der Bilder, der Worte und der Klänge Antworten zu suchen auf Vertrautes und Fremdes – und erneut Fragen aufzuwerfen, die uns übers dünne Eis tragen könnten.