Neue Musik erwartet Selbstständigkeit

Interview mit Hans Zender

Hans Zender, Komponist und Dirigent, hat in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder entscheidende Anstöße in der Neuen Musik gegeben - auch und gerade in der langjährigen Zusammenarbeit und Verbundenheit mit dem Ensemble Modern. Über seine künstlerische Arbeit und den Anfang der Ensembles für Neue Musik in Deutschland sprachen mit Hans Zender Roland Diry und Susanne Laurentius.

Ensemble Modern: Du hast bereits 1978 die Junge Deutsche Philharmonie mit Werken von Schönberg und Brahms dirigiert. Während dieses Projektes entstand dein Wunsch, an einer Vollversammlung teilzunehmen, um das Orchester auf Defizite im Musikleben aufmerksam zu machen. Dabei hattest du darauf hingewiesen, dass das Gesamtwerk von Anton Webern eigentlich an einem Abend spielbar sei. Wo bei uns noch jeder nur darüber nachgedacht hatte, ob nun Mahler interessant sei oder...
Hans Zender: Ja komisch, denn Webern war kompositorisch ja schon recht gut verarbeitet, aber eben noch nicht in den Ensembles bzw. die gab es ja noch nicht. Wann habt ihr euch gegründet?

1980. Zu dieser Zeit gab es innerhalb der Jungen Deutschen Philharmonie eine Aufbruchstimmung: zunächst die Gründung des Ensemble Modern, ein wenig später die der Deutschen Kammerphilharmonie.
Ich hatte kurz vor eurer Gründung die Idee, mit dem Bonner Orchester ein Solistenensemble ins Leben zu rufen. Ich war gefragt worden, ob ich die Gesamtleitung für Oper und Konzert in Bonn übernehmen wolle, und als Lockvogel wurden 25 neue Orchesterstellen in Aussicht gestellt. Das interessierte mich aber nur, wenn ich diese 25 neuen Stellen zur Gründung eines Ensembles für Neue Musik hätte verwenden können. Diese Musiker hätten nach meiner Vorstellung ausschließlich Neue Musik und also nicht im tutti spielen sollen. Die Idee war immerhin ein halbes Jahr in Diskussion und wurde vom damaligen Bonner Oberstadtdirektor sehr unterstützt. Doch dann hat die Gewerkschaft des Bonner Orchesters mitgeteilt, dass diese Stellen auch gewerkschaftlich abgerechnet werden müssten, da das Solistenensemble keinen anderen Status erhalten könne. Damit platzte der ganze Plan. Ich weiß noch, dass ich ein, zwei Jahre später perplex war zu hören, es habe sich ein Ensemble aus der Initiative von Musikern selber gegründet. Das hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich dachte damals natürlich noch wie jeder institutionell und damit, dass eine solche Gründung sozusagen von oben herunter organisiert werden müsse.

Das wäre also ein Hauptstadtensemble gewesen wie etwa das Ensemble InterContemporain?

Genau, das war damals die Idee: Ein repräsentatives Solisten-Orchester wie das EIC, denn das gab es ja schon. Und als Sitz wäre Bonn als damaliges politisches Zentrum das deutsche Pendant zu Paris gewesen. Von hier aus hätte man die ganzen Bundesländer, natürlich auch Darmstadt und Donaueschingen bereisen und eventuell sogar Auslandsreisen unternehmen können. Mit staatlicher Subvention und ausschließlich Neuer Musik auf dem Programm. Das wäre mit 25 Mitgliedern ein großzügig gegründetes Ensemble Modern gewesen, wenn es geklappt hätte.

Das war also genau zu dem Zeitpunkt, zu dem du die Mitglieder der Jungen Deutschen Philharmonie einbestellt und den Vortrag über Webern gehalten hast, der dazu führte, dass 1983 das große Webern- Programm entstand, woraus sich das Ensemble Modern eigentlich erst verselbstständigt hat. Kannst du dich noch an die erste Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern erinnern?


Da muss ich lange überlegen, wann das das erste Mal war.

Ich geb' dir mal ein Stichwort: Mugung-Dong. Beim PEN-Club in Hamburg. Ab da haben wir sehr viele Projekte zusammen gemacht.


Ah, bei Isang Yun. Ja, dann haben wir viel gemacht. Vor allem die Gründung der Happy-New- Ears-Konzerte hat mir große Freude bereitet, denn die blühen ja erstaunlicherweise bis heute weiter. Ich hatte gedacht, dass diese Idee viel zu hoch gegriffen sei und die Reihe nach fünf Konzerten wieder abgesetzt würde. Und jetzt lebt sie schon bald zwanzig Jahre. Schönbergs Kammersymphonie war der richtige Anfang, und wir hatten ja Nuria Schönberg Nono dazu eingeladen.

Und wenig später haben wir die Winterreise uraufgeführt.
Ja, die Winterreise war ja aus der Idee entstanden, dass es eigentlich nicht ideal ist, wenn sich ein Ensemble für Neue Musik ausschließlich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigt. Es sollte dazwischen Ausflüge in andere Jahrhunderte machen, um stilistisch flexibel zu bleiben und entsprechende Collagen oder Neubearbeitungen stilsicherer und bewusster zu spielen. Daher sind die Winterreise entstanden und die Debussy-Préludes, die wir auch uraufgeführt haben. Eigentlich ist für mich daraus die Werkreihe Bearbeitungen, oder wie man das nennen will, entstanden.

Darf ich noch mal zurückkommen auf 1980. Ab diesem Zeitpunkt haben sich in den nächsten Jahren, also in relativ kurzer Zeit, plötzlich viele Ensembles gegründet. Gleichzeitig wurde 1981 der Deutsche Kulturrat gegründet, und es wurde das Künstlersozialversicherungsgesetz verabschiedet, das 1983 dann in Kraft trat. Was lag da politisch und kulturell in der Luft?


Das war das antiinstitutionelle Denken bzw. der Versuch, sich von den Institutionen unabhängig zu machen, auf eigenen Beinen zu stehen und nicht mehr von oben, sondern von unten heraus zu organisieren und künstlerisch zu planen. Ich denke, dass das Ensemble Modern, was die interpretatorische Seite angeht, nicht nur der Vorreiter war, sondern der kreativste Ansatz, den es nach dem Krieg in der Bundesrepublik im Bereich der Neuen Musik gegeben hat. Das fünf Jahre jüngere Klangforum in Wien ist eine vergleichbare Initiative. Natürlich waren nach dem Krieg die Rundfunkorchester die erste große Kraft auf der Seite der Interpreten, ohne die die Neue Musik schlecht dran gewesen wäre.

Ich frage jetzt noch mal nach: Woran lag es, dass auf der einen Seite eine Eigeninitiative der Künstler aufkam und auf der anderen Seite politisch einiges angestoßen wurde - auch institutionalisiert -, um den freischaffenden Künstlern Absicherung zu bieten?


Es war die Zeit reif für eine neuartigere Form der Zusammenarbeit, also auch für die Gründung von Ensembles, die vom Größenverhältnis zwischen Kammermusik und Orchester lagen. Dies war ja auch für die soziale Seite des miteinander Musizierens etwas Neues, denn ein Ensemble ist nicht so einfach zu organisieren wie eine Kammermusikgruppe. Die verschiedenen Arbeitszeiten und -rhythmen der einzelnen Spieler, Geld, Unterbringung bei Konzertreisen - das alles ist komplizierter als bei kleinen Kammermusikensembles. Auf der anderen Seite ist ein Ensemble mit viel weniger Ballast versehen als ein etabliertes Orchester, das nicht nur eine Menge Tradition mit sich herumschleppt, sondern auch die Pfunde der Verwaltungskosten. In den 80er-Jahren war die Zeit reif für eine neue Form von Gruppe, von Gruppenarbeit. Die Zeit war deswegen reif, weil die Neue Musik von den Musikern mehr Selbstständigkeit erwartet. Eine Generation von vielen jungen Interpreten hatte das langsam begriffen und sich fortan dieser neuen Anforderung an die Interpreten gestellt. Solange hat es immerhin gedauert. Denn der Gedanke dieser Ensembles kam ja schon in den ersten Nachkriegsjahren in Darmstadt auf, durch die Initiative von Bruno Maderna für das Internationale Kranichsteiner Kammerensemble, das den Darmstädter Ferienkursen angegliedert war. Das war jedoch ein ad-hoc-Ensemble und wurde jedes Jahr neu zusammengestellt. Maderna hat sehr kreativ mit diesen Musikern zusammengearbeitet.

Ist deine Idee, in Bonn ein Ensemble zu formen, aus der Zusammenarbeit mit diesem Ensemble entstanden?


Nein, das hatte äußerlich mit Darmstadt überhaupt nichts zu tun. Natürlich wurde mir in Darmstadt dieses Ensemble jedes Jahr vor Augen geführt. Aber letzten Endes geht diese Idee ja noch weiter zurück, nämlich auf die Zeit der Zweiten Wiener Schule, deren Musik ja genau diese Art von Ensembles verlangt - da sind wir wieder bei der Kammersinfonie. Das ist mit Orchestermusikern immer wieder ein Problem. Heute vielleicht nicht mehr, da merkwürdigerweise die Ensembles durch ihre pure Existenz wieder auf die Qualität der Orchestermusiker abgefärbt haben. Vor allen Dingen auf die Qualität der Rundfunkorchester.

Wenn man nun sagt, das Orchester war die Form des 19. Jahrhunderts, das Ensemble des 20. Jahrhunderts, was wird die Form des 21. Jahrhunderts sein? Etwas Neues oder etwas Bekanntes?


Geschichtliche Prozesse entwickeln sich in langsamen Wellen. Das große Orchester ist ja nicht verschwunden, ganz im Gegenteil, das ist ja höchst lebendig und wird sogar in Japan und in Korea und vielleicht demnächst in China im großen Stil als Institution neu aufgebaut. So wie die Opernkultur international beständig in der Krise, aber dennoch sehr lebendig ist. Ich denke, das Ensemble ist zwar eine neue Form, die im 20. Jahrhundert durch die Differenzierung der musikalischen Sprache gegründet wurde, als eine Art von Extrakt oder Essenz aus den größeren Orchestern. Aber ich denke nicht, dass die großen Orchester dadurch verdrängt werden, sondern beide werden sicherlich als Differenzierungsbewegung nebeneinander existieren. Was man auch nicht vergessen darf, ist, dass es auch eine große Szene für die Alte Musik gibt. Das Musikleben differenziert und vervielfältigt sich im Augenblick enorm.

Wobei die Orchesterform natürlich auf eine ganz andere Weise kodifiziert ist als die Ensembleform. Hier gibt es ja eine höhere Vielseitigkeit und Flexibilität.
Ja, aber die Orchester sind in den letzten Jahrzehnten auch ein bisschen flexibler geworden. Da gibt es zum Teil sehr erkennbare Öffnungen. Zum Beispiel das Rundfunkorchester des Südwestrundfunks in Baden-Baden, zu dessen leitendem Dreierteam ich ja mit Cambreling und Gielen gehöre, ist sehr flexibel und spielt ja auch in kleinen Gruppen zusammen.

Das stimmt, vor 20 Jahren wäre das undenkbar gewesen. Du bist dann Anfang der 1990er-Jahre nach Frankfurt am Main gekommen und hast die Professur hier übernommen. Im Januar werden wir in zwei Konzerten Werke von dir und Schülern spielen, und du wirst auch dirigieren.

Ich höre das Wort Schüler nicht gerne, denn das sind ja alles sehr bekannte Komponisten. Ich habe in Frankfurt ein ungeheures Glück gehabt, was die Studenten meiner Klasse angeht. Denn so viele inzwischen weit bekannte Komponisten in einer Klasse gehabt zu haben, ist, glaube ich, beispiellos. Das sage ich mit einem gewissen Stolz, auch wenn ich weiß, dass das nicht mein Verdienst war, sondern ein glücklicher Zufall. Mir fällt es immer schwer, aus der Fülle der Möglichkeiten jemanden vorzuschlagen, weil ich keinen vorziehen möchte.

Könntest du zu deinen Werken denn etwas sagen? Wir spielen die Kantate nach Worten von Meister Eckehart und zum ersten Mal mit dir zusammen Cabaret Voltaire.


Cabaret Voltaire ist ein relativ junges Stück, das ich für Salome Kammer geschrieben habe, die ja vor allem durch die Aufführung meiner Hölderlin- Stücke sehr mit mir verbunden ist. Sie hat neben ihrer musikalischen und schauspielerischen auch eine kabarettistische Begabung. Ich habe sie bei der Aufführung von Pierrot Lunaire kennengelernt, und im Anschluss entstand der Plan, ein Stück für sie zu schreiben. Darum freue ich mich sehr, dass sie auch in unserem Konzert als Solistin mitwirkt. Meister Eckehart dagegen ist ein eher sprödes oder besser gesagt: introvertiertes Stück. Ein Gegensatz also zu dem sehr extrovertierten Cabaret Voltaire. Es hat eine Innenseite, die man als Interpret sehr intensiv wiedergeben muss, das gilt auch für die Musiker. Sonst bleibt das Stück verschlossen.

Könnte man sagen, dass diese beiden gegensätzlichen Begriffe, das Introvertierte und das Extrovertierte, sehr charakteristische Pole für dich sind?


Man kann sich selber nie richtig sehen. Ich kann nichts über mich selber sagen, ich glaube, man fängt nur an, sich zu stilisieren, wenn man das versucht. Man muss die Kröte ganz schlucken... Ein Künstler muss den Mut haben, so zu sein, wie er von Natur aus ist - auch wenn er damit vielleicht schwierige Anforderungen an seine Umwelt stellt.

Die Kröte schlucke ich gerne und ziehe die Frage zurück. Wie stellst du dir die nächsten Jahre in der Aufteilung zwischen Komponier- und Dirigierzeit vor?


Ich habe jedes Jahr wieder gute Vorsätze, weniger zu dirigieren, und das gelingt mir auch, und so wird es sicherlich bleiben. Ich habe gerade mehrere Stücke in Arbeit, aber ich spreche ungern über ungelegte Eier. Für mich ist das Dirigieren übrigens immer mit meiner eigenen kompositorischen Arbeit verbunden, weil ich vom heutigen Komponisten ein klares Bewusstsein von seiner Beziehung zur Geschichte verlange. Auch wenn wir Tradition ablehnen, beziehen wir uns auf sie - und das müssen wir wissen. Deswegen gehören bei mir Komponieren und Interpretieren zusammen. Es ist für mich kein Unterschied, ob ich an einem eigenen Stück oder (als Dirigent) an einem Stück Geschichte arbeite und zwar sowohl kompositorisch als auch interpretatorisch. Ich versuche, diese falsche Trennung aufzuheben, und habe sie in meinem kompositorischen Werk zumindest teilweise sowie in meiner Dirigiertätigkeit immer aufgehoben.

Ensemble Modern