Eine Vision für die Moderne

Interview mit dem Intendanten Michael Haefliger und dem Dramaturgen Mark Sattler

Das Lucerne Festival ist gerade in den letzten Jahren zu einem wichtigen Partner des Ensemble Modern geworden. Roland Diry unterholt sich mit dem Intendanten Michael Haefliger und dem Dramaturgen Mark Sattler über die Entwicklung und Zukunft, Schwerpunkte und die Stellung der Neuen Musik innerhalb des Festivals.

Ensemble Modern: Das Lucerne Festival hat eine sehr lange Geschichte, die weit zurück reicht, den Grundstein legte Arturo Toscaninis »Concert de Gala« vor Richard Wagners ehemaligem Wohnsitz auf Tribschen im Jahr 1938. Wie können Sie aus der historischen Sicht das Festival heute einbetten und wie sind die langfristigen Pläne?

Michael Haefliger: Das Festival wurde 1938 gegründet mit dem Ziel, eines der großen Konzertfestivals zu werden und zwar mit einem Schwerpunkt im symphonischen Bereich. Schon in den 1950er und 1960er Jahren kamen die großen Dirigenten nach Luzern. 1999 wurde dann ein weiterer entscheidender Schritt gemacht, der zu einer nochmals vertieften Zusammenarbeit mit der Weltklasse der klassischen Musik, aber auch der Integration der zeitgenössischen Moderne führte. Da hat ein Neubeginn stattgefunden, der mit der Schaffung einer neuen Stelle einherging: Mark Sattler ist seit dem ausschließlich für die Programmierung der Neuen Musik zuständig. Es gab weit reichende infrastrukturelle Maßnahmen durch die gesamte Festivalstruktur hindurch: bis zum Kartenverkauf, damit auch intern auf allen Ebenen das Bewusstsein geschaffen wird, warum zeitgenössische Musik gespielt werden muss. So wurde eine Vision für die Moderne kreiert.
Außerdem liegt uns die Förderung junger Künstler sehr am Herzen, die in LUCERNE FESTIVAL ACADEMY unter der Leitung von Boulez zusammengefasst wurde. Hier erarbeiten 100 bis 120 Musiker intensiv ein zeitgenössisches Programm. Und hier können wir die Sprachen von heute mit der Künstlergeneration von heute verbinden.
Mir war klar, dass es nicht genügt, nur die besten Orchester und berühmtesten Dirigenten einzuladen, sondern dass ein Festival mit unserem Anspruch eine unverwechselbare Identität benötigt. Dafür sind die Akademie und das neu gegründete LUCERNE FESTIVAL ORCHESTRA unter der Leitung von Claudio Abbado sehr wichtig, Gerade dieser Ansatz greift auf die Tradition zurück, da Toscanini bereits ein Festspielorchester gegründet hatte. Außerdem haben wir ein für uns, die Orchester und Sponsoren neues orchestra-in-residence-Modell entwickelt: Die eingeladenen Orchester bleiben bei uns für mindestens drei Konzerte, dadurch kommen wir zu einer intensiveren programmatischen Zusammenarbeit. Exemplarisch dafür ist das Projekt "Roche Commissions", das wir gemeinsam mit der Firma Roche als Sponosor und unseren Partnern Cleveland Orchestra und Carnegie Hall gegründet haben. Komponisten - dieses Jahr Hanspeter Kyburz - erhalten von uns Aufträge, die nach der Uraufführung in Luzern in der Carnegie Hall und in Cleveland nachgespielt werden. Wir fokussieren also auch mit Partnern aus dem so genannten Establishment die Moderne.
Dann kümmern wir uns neben der regelmäßigen und intensiven Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern und dem Ensemble InterContemporain auch um die rege Schweizer Szene, der wir eine internationale Plattform geben möchten.

EM: Es gab im Laufe der Geschichte auch einige Namensänderungen - war damit auch immer eine inhaltliche Neuorientierung verbunden?

MH: Wir haben den Namen des Festivals geändert, weil wir einen modernen Geist ausstrahlen wollten. Internationale Musikfestwochen war zu lang und zu wenig prägnant. Lucerne Festival ist sehr einfach, das kleinste gemeinsame Vielfache sozusagen.
Das war 2001. In jenem Jahr lautete das Festivalthema »Schöpfung« und das Ensemble Modern Orchestra spielte die Schweizer Erstaufführung von Luigi Nonos Prometeo. Das war ein Meilenstein, ebenso wie Répons von Pierre Boulez und Bernd Alois Zimmermanns Requiem.

Mark Sattler: Eine Ergänzung zu der Neuorientierung des Festivals: Schon 1999 hattest du das EMO mit John Adams eingeladen und damit für den neuen Konzertsaal und das sinfonische Programm ein Signal für die Moderne gesetzt,
Es gab auch vorher in der Festivalgeschichte composers-in-residence und ein Engagement für zeitgenössische Musik. Wir haben die Anzahl an Konzerten erhöht, die Präsenz der Komponisten ausgebaut und das Programm auch durch zahlreiche Vermittlungsveranstaltungen erweitert. Das EM hat uns da regelmäßig unterstützt und begleitet, so bei Projekten mit Heiner Goebbels (2003), Heinz Holliger (2004) oder Helmut Lachenmann (2005).

EM: Umgekehrt war das Lucerne Festival schon früh ein Anreger und Partner des EM für die Konzeption von Programmen, darunter 2005 die Geburtstagstournee für Helmut Lachenmann. Die Uraufführung seines Ensemblestückes Concertini, ein Auftrag eures Festivals, durch das EM fand in Luzern statt und wurde weitere zwölf Mal bei den großen Veranstaltern in ganz Europa nachgespielt. Von Oslo bis Paris gab es eine Europäische Erstaufführung nach der anderen, es ist ein großes Stück geworden.
Wie integrieren Sie die zeitgenössische Musik ins Gesamtfestivalprogramm?

MS: Wir haben eine Konzertreihe MODERNE und versuchen in den anderen Segmenten des Festivals kontinuierlich zeitgenössische Musik zu präsentieren. Durch stete, sorgfältig gestaltete Begegnungen erhoffen wir, dass ein selbstverständlicher Umgang mit der zeitgenössischen Musik - wie sie in den anderen Kunstsparten an der Tagesordnung ist - entsteht. Die Qualität, die das Festival im klassischen Bereich aufgebaut hat, bestimmt auch die Programmierung der zeitgenössischen Musik. Deswegen arbeiten wir mit den europäischen Spitzenensembles, mit dem Klangforum Wien, mit dem EM und dem EIC zusammen. Das Publikum vertraut uns und kommt deshalb auch aus den klassischen Konzerten in die modernen. Diese Neulandhörer erleben ein breites Spektrum wichtiger Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, mehr noch: Sie lernen die verschiedenen Personal- und Interpretationsstile der Komponisten und Ensembles kennen, entwickeln ein selbstbewusstes, differenziertes Hören von Neuer Musik. Wir sprechen nicht nur eine kleine Insider-Szene an, unser Ziel ist es, ein großes Publikum zu erreichen, und das gelingt durch die Qualität der Interpretation und Programmierung. Das erfordert eine ganz andere Dramaturgie als in Witten oder Donaueschingen. Das Besondere dabei ist, dass wir mit weniger als 3 % Subventionen ein solches zeitgenössisches Engagement bestreiten müssen. Auch darin unterscheiden wir uns von vielen anderen großen Festivals, die anders abgesichert arbeiten können.

EM: 3 % ist wirklich sehr wenig. Dennoch ist das das Entstehen von Programmen hier immer wunderbar fruchtbar, da wir bei Euch wirklich künstlerisch nachdenken können. Das Programm in diesem Jahr mit HK Gruber ist ein beispielhaftes Ergebnis unserer Zusammenarbeit. Das EM konnte sich mit Gruber mit einer gemeinsam und über Jahre hinweg erarbeiteten Klangkultur der Musik Eislers und Weills einbringen. Das ist wunderbar.

MS: Bei einem Festival ist ja gerade spannend, die Vielfalt, die verschiedenen Sprachen der neuen Musik zu zeigen, d.h. ihr spielt einen Nono oder Lachenmann aber auch einen Zappa oder HK Gruber. Eure Erfahrung und Offenheit kommen uns sehr entgegen.

EM: Das Lucerne Festivalorchester war früher ein Orchester der besten Schweizer Musiker.

MH: Das ist es heute nicht mehr. Es besteht aus jungen, aber auch arrivierten Musikern, die von Claudio Abbado zusammen gerufen werden. Das Orchester geht auf die ursprüngliche Festivalidee zurück.

EM: Ich sehe das als eine Europa- und eine Jugenderweiterung.

MH: Nimmt man die Boulez-Akademie hinzu, deren Teilnehmer aus allen fünf Kontinenten kommen, ist diese Erweiterung sogar weltweit!

EM: Wie identifizieren Sie für die jeweiligen Jahre die Künstler, die Sie ins Zentrum stellen?

MS. Aufgrund ihrer Qualität und ihrer Vielseitigkeit auch in Bezug zur Moderne. Wir sitzen regelmäßig zusammen, suchen Themen und Inhalte und die dazugehörigen Künstler. Bei Helmut Lachenmann z.B., mit dem wir schon lange über eine Residenz und ein Auftragswerk gesprochen hatten, was bekanntlich schwierig ist, da er sich nicht festnageln lässt, hatten wir 2005 festgelegt und darauf aufbauend das Thema »Neuland« entwickelt. Lachenmanns Musik hat dazu exemplarisch gepasst. Für 2006 haben wir das Thema »Sprache«. Es gab bereits einen langen Kontakt mit HK Gruber und den Wunsch, ihn als "composer-in-residence" zu haben. Gruber wird selber als Sänger und Rezitator auftreten, Sprachgenauigkeit beim Komponieren und Interpretieren ist sein großes Thema.

EM: Wie wird er sonst vertreten sein?

MS: Mit drei Hauptkonzerten, die er selber dirigiert: mit dem BBC Symphony Orchestra, wird er ein reines Gruber-Programm machen, darunter eine Uraufführung; dann mit dem EM eine lange Konzertnacht, ein Doppelportrait Hanns Eisler und Kurt Weill, das stilistischen Bogen spannt von deren Prägung durch Schönberg bis zu einer straßentauglichen Gassenhauermusik; das letzte ist mit den Wiener Philharmonikern, die HK Gruber das erste Mal dirigiert. Es werden Antheil, Bernstein, Weil/Brechts Die sieben Todsünden und sein Orchesterstück Dancing in the Dark gespielt - zum Beginn des Konzertes rezitiert Gruber einen Teil von Schwitters Ursonate.

MH: Zum Thema Sprache spielt Weill in seiner Zusammenarbeit mit Bertold Brecht natürlich eine ganz wichtige Rolle. Aber auch Arnold Schönberg, weil er den musikalischen Umgang mit Sprache enorm weiterentwickelt hat bis hin zum Sprechgesang. In Werken wie dem Überlebenden aus Warschau, Pierrot Lunaire, Erwartung und den Gurreliedern ist er eine enorme Entwicklung gegangen. Hier lässt sich die alte Frage stellen, die schon Mozart und Wagner zu beantworten suchten: Was ist zuerst? Die Musik oder das Wort? Mit diesem Thema haben sich die Komponisten ja immer sehr stark auseinandergesetzt - eben auch Schönberg und Gruber

EM: Haben Sie sehr bewusst Schönberg und Gruber zusammengebracht?

MS: Ja. Von Schönberg, als Urvater der Moderne, führt ein Entwicklungsstrang zu Webern und Boulez, ein anderer lässt sich zu Weill und Eisler ableiten.

EM: Können Sie schon Akzente, Veränderungen für die Zukunft verraten?

MH: Thematisch werden wir wohl wieder einen dreijährigen Zyklus angehen, wo wir die Wechselbeziehungen zu den anderen Künsten erforschen wollen. Ab 2008/2009 einen stärkeren Bezug zu Theater, Kunst, Tanz aufbauen und auch vernetzen. Es hat ja eine Trennung der Künste stattgefunden. Die Künste sind sehr autark geworden: Die Kunstszene ist eine Kunstszene, die Musikszene eine Musikszene und die Theaterszene ist eine Theaterszene. Wir wollen da initiativ werden und interessante Verbindungen schaffen.

Ensemble Modern