Alarm und Aufbruch

Interview mit Liu Sola

Frankfurter Rundschau: Frau Liu, Sie haben im Auftrag des Ensemble Modern eine Oper komponiert. Lassen Sie uns zuerst einmal den Begriff ein wenig eingrenzen: Für "Oper" kennt das Chinesische die Worte "xiqu" und "yue", wobei wir im Westen allenfalls mit dem Schlagwort "Peking-Oper" eine vage Vorstellung verbinden. Bitte ordnen Sie für uns diese Begriffe.

Liu Sola: Xiqu steht für alle Formen der Oper in China, yue dagegen hat viele Bedeutungen und meint im Grunde Musik im Allgemeinen. Die so genannte Peking-Oper ist eine spezielle, traditionelle und etablierte Opern-Gattung, sie bildet den Mainstream.

Mainstream will sagen: Sie ist die populärste Oper in China?

Ja, in Peking ist sie die gängigste, auch einflussreichste.

Wo könnte man nun Ihre Oper "Fantasy of the Red Queen" einordnen?

Ich habe hier viel vom Stil der Peking-Oper übernommen. Aber auch von der westlichen Oper, ohne jedoch deren Struktur zu übernehmen. Die Melodien sind chinesisch, die Struktur, nun, die ist genuin von mir selbst. Man kann das mit Architektur vergleichen: Das Material ist traditionell, was daraus entsteht, ist neu. Auch chinesischer Pop spielt eine Rolle, Jazz, zeitgenössische Musik des Westens, viele Dimensionen kommen hier zusammen.

Wenn wir von Mozart und Puccini geprägten Operngänger Ihre Oper hören: Werden wir sie gleich als "Oper" erkennen?

Es ist zumindest keine Fortsetzung Ihrer Oper mit anderen Mitteln, keine Weiterentwicklung dieser Schule. Es wird Ihnen jedenfalls sehr chinesisch vorkommen. Sehen Sie, China wurde rund hundert Jahre von westlicher Musik beeinflusst, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist klar, dass sich die Stile da gegenseitig bedingen, die chinesischen Wurzeln bleiben immer hörbar. Da wird nicht das eine über das andere gestülpt nach dem Motto "West meets East", es verschränkt sich vielmehr alles.

Das Wort vom "West meets East" scheinen Sie nicht sonderlich zu lieben.

Ich lehne es komplett ab. Unter dieser Flagge werden westliche Harmonien mit fernöstlich anmutenden Melodien zusammengezwungen, das ist ein sehr oberflächliches Verständnis von kultureller Mischung. Als die Marxisten nach China kamen und hier auf den Sozialismus trafen, konnte man von "West meets East" reden. Ich möchte in meiner Oper aber die Verschmelzung zeigen, also dass im Geiste alles zusammen gehört, dass man nicht mehr trennen und heraushören kann, was aus welcher Historie kommt.

Ihre erste Oper hatte noch ganz andere Wurzeln. Sie selbst sagten einmal, sie würde klingen wie von Pink Floyd.

Ja, meine Rock-Oper, die ist aber schon mehr als 20 Jahre alt, ich schrieb sie, kurz bevor ich China verlassen habe. Damals stand Pink Floyd für mich für den Westen, ich hatte noch kein tieferes Verständnis für die Musik außerhalb Chinas. Das war für mich eine Art symbolische Rebellion.

In Ihrer neuen Oper spielen chinesische Instrumente wie die Laute pipa oder die Zither guqin neben westlichen wie dem Konzertflügel. Bleiben die Instrumente in ihrem jeweiligen Kulturkreis?

Alles, jedes Motiv, was mein pipa- und mein guqin-Spieler spielt, ist traditioneller Herkunft. Ich möchte eine pipa keine Zwölftonmusik spielen lassen, das ist nicht ihre Musik. Ich versuche sehr sorgfältig zu sein in der Frage, für welches Instrument welche Noten passen. Die guqin ist das älteste Instrument Chinas, sie zu spielen ist eine intellektuelle Übung, keine Unterhaltung. Bei mir spielt sie deswegen auch außerhalb der Bühne, eine Musik des Himmels, Symbol des Geistes. Eine pipa allerdings kann auch sehr modern klingen, etwa wenn man tausend traditionelle Motive so überlagert und mischt, dass etwas ganz Neues entsteht. Das Material ist alt, die Verbindung wird neu.

Sie waren die erste chinesische Musikerin, die freie Improvisationen aufgeführt und den Blues gesungen hat. Und trotzdem heißt es über Sie, Sie seien Teil der "verlorenen Generation" in China gewesen. Wie passt das zusammen?

Das mit der Generation habe ich nicht selbst gesagt, es war vielmehr ein Label, das mir aufgedrückt worden war. Labels jeder Art finde ich für mich unpassend, ich wurde aber als Schriftstellerin, als Sängerin, als Komponistin oft mit einem Label versehen. Ich bin frei, ohne Generation, ohne Label.

In "Fantasy of the Red Queen" geht es um eine alte Frau, die fantasiert, sie sei Jiang Qing. In Deutschland muss man Jiang Qing erst einmal vorstellen: Sie war die vierte Ehefrau Mao Tse-tungs, eine ehemalige Peking-Oper-Darstellerin und an Maos Seite eine der brutalsten Aktiven der Kulturrevolution. Ihre Oper handelt nun aber nicht von jener Jiang Qing, sondern von einer anonymen alten Frau. Warum?

Weil mich Jiang Qing als Person nicht alleine interessiert. Es geht mir mehr um die Frauen generell, um die Frauen dieser Generation, in dieser Gesellschaft. Jiang Qings Leben, ihr Aufstieg von ganz unten nach ganz oben alleine über den Ehemann, ist repräsentativ für so viele andere Frauen. Das eigene Leben von der Karriere, der Macht anderer abhängig machen, das ist ein Thema nicht nur der Frauen in China. Als Jiang Qing dann bei der Macht angekommen war, hatte sie das kulturelle Leben weitgehend bestimmt im China der Kulturrevolution, sie hat damit den Geist der Menschen kontrolliert. Noch heute werden die Werke dieser Zeit aufgeführt, keiner denkt darüber nach, woher sie kamen. Ich möchte mit meiner Oper ein Alarmsignal setzen, ein Aufbruchsignal. Wenn sich die Klänge nicht ändern, kann sich auch die Geschichte nicht ändern.

Weiß jeder in China, wer Jiang Qing war, die 1991 im Gefängnis Selbstmord begangen hat?

Oja. Jeder weiß, dass sie die eigentliche Kriminelle der Kulturrevolution war. In Deutschland kennt man nur den Namen Mao Tse-tungs, in China aber verbindet man mit ihr den Schrecken dieser Jahre.

Stefan Schickhaus