Wie ein Werk entsteht

Interview mit Michael Thoss

2004 fand im Rahmen der IEMA das erste Internationale Kompositionsseminar statt - ein Projekt für junge Komponisten, deren Werke das Ensemble Modern gemeinsam mit einem international renomierten Komponisten und Dirigenten sowie zwei Nachwuchsdirigenten erarbeitet und einstudiert; zwei Musikwissenschaftler haben dabei zusätzlich die Möglichkeit den Entstehungsprozess neuer Werke zu begleiten und zu dokumentieren. Roland Diry und Michael M. Kasper sprachen mit Michael Thoss, dem Geschäftsführer der Allianz Kulturstiftung, die das Seminar gemeinsam mit der IEMA durchführt.

Internationale Ensemble Modern Akademie: Die IEMA arbeitet mit drei Stiftungen sehr eng zusammen. Vielleicht könnten Sie zunächst einmal die wichtigsten Punkte zusammenfassen, die die Arbeit der Allianz Kulturstiftung charakterisieren.


Michael Thoss: Die Allianz Kulturstiftung ist eine gemeinnützige Unternehmensstiftung, die zugleich eine Mehrspartenstiftung ist. Musik ist einer von mehreren künstlerischen Bereichen, in denen wir tätig sind. Dabei legen wir besonderen Wert auf die Förderung des akademischen und künstlerischen Nachwuchses in Europa. Für diese jungen Talente organisieren wir Begegnungen, bei denen sie einander kennenlernen und sich professionalisieren können. So z.B. auf der letzten Berlin Biennale eine Kuratorenplattform mit jungen Künstlern und Kuratoren aus 14 Ländern, die wir auf der nächsten Moskau-Biennale fortführen wollen oder bei unserer jährlichen Allianz Summer Academy, die in diesem Jahr auf dem Campus von Natolin / Warschau stattfinden wird. Wir arbeiten ausschließlich projektbezogen sowohl fördernd wie auch operativ. Operativ meint hier, dass wir mit unseren Projektpartnern selbst Projekte initiieren und dabei sowohl externe Experten wie auch Mitglieder unseres Kuratoriums oder Alumni-Netzwerkes mit einbeziehen. Dabei werden wir zunehmend auch im Ausland präsent sein. Für die nächsten Jahre haben wir als regionalen Schwerpunkt die Länder Mittelosteuropas ausgewählt. Denn wir mussten feststellen, dass Schriftsteller oder Komponisten aus gewissen Ländern eher die Möglichkeit haben, ihre Werke in Deutschland zu zeigen bzw. aufzuführen als in ihren Heimatländern. Das macht keinen Sinn, zeigt aber das Wohlstandgefälle in Europa an. Viele haben einfach nicht die Möglichkeit, in ihrem Land ihr erstes Theaterstück, ihre erste Partitur aufzuführen, weil es eine notwendige Förderung dort nicht gibt.

Was für einen Stellenwert hat die Förderung Neuer Musik für Sie und in welchem Verhältnis steht sie zur Förderung der anderen Musikbereiche, etwa dem Dirigentenwettbewerb?


Wir haben uns im Musikbereich ebenso wie in den anderen Bereichen auf ein Segment beschränkt. Einerseits beschränken wir uns auf die Förderung der zeitgenössischen Künste. In der Musik konzentrieren wir uns auf den Bereich der zeitgenössischen Kammermusik. Bei der Dirigentenakademie kommt es uns mehr auf die Erarbeitung, die gemeinsamen Probephasen an: Wie proben diese jungen Dirigenten zum ersten Mal mit einem großen erfahrenen Orchester unter der Aufsicht von Kurt Masur oder Christoph von Dohnanyi? Hier haben wir eine auf die große Öffentlichkeit ausgerichtete Nachwuchsförderung. Das halte ich für komplementär, weil auch der Musikbereich, der Konzertbetrieb so ausgerichtet ist. Wobei wir natürlich dort auch immer Stücke Neuer Musik im Repertoire sehen wollen. Wie gehen Sie mit dem Phänomen um, dass in dem Land mit den meisten Orchestern das Repertoire sich immer mehr einschränkt? Dass das Publikum, die Abonnenten immer gängigere Stücke, also das Kernrepertoire verlangt? Wie gehen Sie damit um, dass der Konzertbetrieb immer flacher wird und demzufolge dieses Potential, diese jungen Talente, die Sie jetzt auch hier haben, eigentlich nur sehr begrenzt arbeiten können? Ich habe gehört, dass es pro Jahr 250 Komponisten in Deutschland gibt, die von der Hochschule ins Berufsleben entlassen werden. Demgegenüber deutschlandweit aber nur 3 % Neue Musik im Repertoire der Orchester vorhanden ist, wozu bereits die Klassiker der Neuen Musik gezählt werden müssen. Einerseits kann man als junger Komponist, der heute von einer Hochschule oder Akademie kommt, nicht davon ausgehen, dass man von dem, was man gelernt hat, leben kann. Das heißt, man muss zweioder dreigleisig fahren. Auf der anderen Seite hat etwa das EM als ein Ort mit einer hohen Spezialisierung eigentlich immer weniger Möglichkeiten in den klassischen Konzertbetrieb hinein zu kommen.

Sie unterstützen mit der Allianz Kulturstiftung das Internationale Kompositionsseminar. Das heißt, Sie unterstützen einen Entstehungsprozess, der für alle Teilnehmer eine außergewöhnliche Erfahrung und Chance darstellt.


Unsere Projekte sollen immer einen Austausch- und Begegnungscharakter haben. Es gibt viele Unternehmensstiftungen, die z.B. Opernaufführungen sehr gut finden, weil die prestigeträchtig sind und ein bestimmtes kaufkräftiges Publikum anziehen. Das ist nicht unser Anliegen. Wir sind eine gemeinnützige Stiftung und viel mehr prozess- als eventorientiert. Wir wollen den künstlerischen Nachwuchs unterstützen, wenn er die ersten entscheidenden Erfahrungen im beruflichen Bereich macht und sich künstlerisch positioniert. Noch nicht während der Hochschul- bzw. der klassischen Akademieausbildung; aber auch nicht erst in der Phase, in der Künstler schon einen Namen haben. Wir finden diese innovative Vielfalt, die die Ergebnisse der ersten beiden Kompositionsseminare mit dem Ensemble Modern zeigen, hochinteressant und beobachten mit großem Interesse die neuen Koproduktionsformen, die Sie ausprobieren. Die künstlerische Praxis ist für uns dabei genauso wichtig wie die ästhetischen Ausdrucksformen. Wir haben z.B. auch eine Drehbuchförderung und die bereits genannte Dirigentenförderung. All diese Menschen, die wir dort fördern, befinden sich in einer ganz bestimmten Lebens- bzw. Berufsphase, die man nur schwer am Alter festmachen kann. Der eine ist mit 21 dabei, eine andere fängt erst mit 30 erst an. Das heißt, wir berücksichtigen auch nichtlineare Karrieren. Für uns ist nur wichtig, dass wir in dem Augenblick dabei sind, wenn die traditionellen Förderungen - wie die klassischen Erstförderungen - nicht mehr greifen. Hier ist ein interdisziplinärer Aspekt im Musikbereich für uns sehr wichtig; nämlich die Zusammenarbeit der junger Dirigenten und Komponisten, die aus verschiedenen Ländern und künstlerischen Richtungen kommen. Uns ist wichtig, dass es sich nicht allein um eine Hochbegabtenförderung oder um verschiedene Talente, die nebeneinander stehen, handelt, sondern dass auch bei dem Arbeitsprozess etwas ganz Entscheidendes zwischen ihnen und den Musikern passiert.

Für uns ist interessant, dass wir in Bereiche vorstoßen, in denen wir normalerweise die Komponisten nur kennen lernen können, wenn sie 20 Jahre älter und sehr bekannt sind. Jetzt im Vorfeld bereits die Kontakte zu knüpfen, die Komponisten weiter zu begleiten, das ist sehr positiv für uns. Wir haben den Vorteil, dass uns jetzt Möglichkeiten offen stehen, die wir später mit Aufträgen teuer bezahlen müssten. Für uns ist es an diesem Punkt auch ein großes Projekt.


Hier ist der Vernetzungsaspekt natürlich wieder sehr wichtig. Bei unserem gemeinsamen Projekt werden Musiker, Komponisten, Dirigenten aus ganz Europa in einer Phase, in der sie noch selbst suchen, miteinander vernetzt. Die Teilnehmer werden von renommierten Künstlern und Wissenschaftlern vorgeschlagen. Es ist eine tolle Leistung, wenn man in verschiedenen Ländern seine »Scouts« hat, auf die man vertrauen kann und die natürlich auch das Ensemble von der Qualität her einschätzen können. Uns liegt viel daran, Projekte in vorbildlichen Einrichtungen zu fördern; insbesondere den experimentellen Charakter, den das Ensemble seit 25 Jahren kennzeichnet. Ich halte gerade dies für exemplarisch und teilweise auch übertragbar auf andere kulturelle Bereiche.

Was uns an diesem Projekt fasziniert, ist, dass das Projekt ganz anders aufgestellt ist. Normalerweise treffen Komponisten auf Musiker, die Musiker bekommen Partituren und spielen. Hier kommt ein halbes Jahr vor der Aufführung unfertiges Material, man muss sich zusammenfinden, muss die Sprache der Komponisten kennen lernen; die Komponisten müssen uns, wir müssen die Dirigenten und deren Zeichensprache kennen lernen. Zwar kommt noch eine Person, wie letztes Jahr Helmut Lachenmann und dieses Jahr George Benjamin, die beobachtet und Hilfestellung gibt, hinzu. Aber diese erste Phase ist gekennzeichnet von etwas Unfertigem, sehr Fragilem. Diesen Prozess zu beobachten, ist wunderbar und sehr intim. Da stellt sich uns die Frage: Ist es eigentlich ein Prozess, der an die Öffentlichkeit gehört oder nicht?


Es handelt sich hierbei ja um eine Teilöffentlichkeit, eine qualifizierte Fachöffentlichkeit. Man könnte das Kompositionsseminar meines Erachtens durchaus mit Schreibwerkstätten vergleichen. Auch Schriftsteller treten auf und lesen aus ihren Büchern, mitunter auch aus nicht fertigen Manuskripten. Ich denk schon, dass das zumutbar und wichtig ist. Es gibt ja diese erste Phase, in der die noch nicht vollendeten Partituren der Komponisten erst ausprobiert und geprobt werden. Ich finde es ganz wichtig, dass die Musiker bereit sind, sich den damit verbundenen Ungewissheiten zu stellen. Diese Bereitschaft mit anderen zu lernen, ist beim Ensemble Modern auf großartige Weise ausgebildet. Es geht dabei ja auch um ein Mitbestimmungsmodell und um einen ganz anderen Weg der Erkenntnis. Klassische Orchester sind sehr stark hierarchisch strukturiert und erlauben das nicht. Es müsste eigentlich viele Ensemble Modern geben, ohne Ihnen damit die Einmaligkeit nehmen zu wollen. Es wundert mich wirklich, dass das Ensemble Modern nicht schon weltweit Funken geschlagen hat und man sagt: So muss man lernen miteinander zu musizieren, miteinander umzugehen und sich dabei kennenzulernen.

Entsprach das Ergebnis des Konzertes Ihren Erwartungen?


Sehr! Es ist wichtig zu merken, dass es sich um völlig unterschiedlich aufgestellte, junge Komponisten handelt. Man muss erkennen, dass es nicht die eine Bewegung in der experimentellen Musik gibt, die mit einer Generation junger Komponisten oder bestimmten nationalen Kulturen identisch wäre. Das konnte man bei den Abschlusskonzerten wunderbar beobachten. Hier sind die Vielfalt und das Universelle kein Widerspruch.

www.allianz-kulturstiftung.de

Ensemble Modern