Multipler Mozart

Interview mit Arnulf Herrmann

Es ist Mozart-Jahr. Mozart war Wunderkind, Kapellmeister, Schöpfer unzähliger Werke, Meister aller Gattungen und zu seinem 250. Geburtstag zeigt das Ensemble Modern Orchestra Facettenreichtum und Nachwirken seines Schaffens: Dazu beauftragte es die Komponisten Benedict Mason und Arnulf Herrmann, Werke zu schreiben, die einen direkten Bezug zu Mozart haben. Mit dem in Berlin lebenden Arnulf Herrmann unterhielten sich Uwe Dierksen und Susanne Laurentius über den Salzburger Bub' und mögliche musikalische Anknüpfungspunkte in der heutigen Zeit.

Im Januar werden wir dein neues Stück Terzenseele im Rahmen unseres Mozart-Projektes uraufführen. Wie hast du dich in Vorbereitung auf die Komposition Mozart genähert?


Also, ich habe ihn eher eingekreist. Und zwar einerseits mit der Frage nach meinem persönlichen Mozart, gewissermaßen auf der Grundlage der Frage: "Sie haben 5 Sekunden Zeit alles zu sagen, was ihnen zu Mozart einfällt" und andererseits auf der Basis einer mehr theoretischen Auseinandersetzung, vor allem mit den Theoretikern aus der Mozart-Zeit. Das Ganze zu dem Zweck, das Multipler Mozart für mich Aktuelle, Zeitgenössische in Mozart zu finden. Vor einigen Jahren habe ich in Berlin außerdem einmal einen Vortrag über die so genannten Attwood-Studien gehalten. Mozart hatte nur wenige Kompositionsschüler, einer war der Brite Thomas Attwood, der fast alle Unterlagen aus dem Unterricht aufgehoben hat, und die sind publiziert. Es ist sehr spannend zu sehen - besonders bei den freien Kompositionen Attwoods -, was Mozart korrigiert. Da sieht man ziemlich genau, wie er gedacht hat, wo er was verändert, einen Akkord umstellt und warum. So war Mozart bei mir gewissermaßen schon vorbereitet.

Welche Anknüpfungspunkte mit Mozart sind in dein Werk eingeflossen?


Am besten nenne ich einfach ein paar Schlaglichter, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit und vor allem im Hinblick darauf, dass ich ja noch mitten im Kompositionsprozess stecke. Fangen wir mal beim Titel an: Das Stück heißt Terzenseele. Dieser Titel ist mehrschichtig gemeint. An der Oberfläche denkt man aber sicherlich zuerst an die ?Terzenseeligkeit?, die Füllstimmenbehandlung in der Klassik (mit langer Tradition). In zweien der drei Sätze von Terzenseele wird der Umgang mit parallel geführten Stimmen sehr wichtig sein. Ich habe diese Parallelführungen allerdings bis an einen extremen Punkt getrieben. Es gibt ganze Passagen, in denen ich Mehrstimmigkeit wie eine einzige Linie behandle. Allerdings bleiben die Intervalle bei mir nicht gleich, sondern ändern sich permanent, werden mal enger, mal weiter geführt. Dieser satztechnische Aspekt wird für die Klanglichkeit des Stückes an vielen Stellen Bedeutung haben. Der zweite Aspekt ist ein mehr formaler. Ich habe eingangs von meiner Beschäftigung mit der Musiktheorie in der Mozart-Zeit gesprochen. Das kann ich vielleicht anhand des musikalischen Würfelspiels von Mozart kurz plastisch machen: Die Zuschreibung ist zwar nicht ganz gesichert, aber es gibt so oder so einen Eindruck von der Denkweise in der Mozart-Zeit. Wir haben ein Menuett von 16 Takten. Jeder Takt existiert in 11 Varianten, und welche Variante von z.B. Takt 1 mit welcher Variante von Takt 2 verbunden wird, muss jedesmal erwürfelt werden. Es gibt also Varianten von Bausteinen, die immer anders zusammengesetzt werden können und trotzdem in jedem Fall ein Stück ergeben. Das Denken in und Anordnen von kleinen Bausteinen ist auch für mich in diesem Stück kompositionstechnisch sehr wichtig. Ich habe in einem Satz z.B. sehr kleine Einheiten, die ich immer wieder neu anordne, die sich immer anders weiterentwickeln. Ähnlich wie bei Lied- und Rondoform, wo man mit bestimmten Abfolgen von einzelnen Teilen arbeitet. Das sind aber Aspekte, die auch in anderen Werken von mir eine Rolle spielen. Ein dritter Aspekt ist: Virtuosität. Hier waren Mozarts Solokonzerte natürlich die Bezugspunkte. Es gibt bezogen auf Virtuosität vor allem zwei Extreme, die mich interessieren und die beide im Stück vorkommen werden: a) Eine extreme Verschmelzung zwischen Spieler und Instrument, wie schon in meinem Posaunenstück ROOR, wo ich versuche, bestehende Techniken weiterzuentwickeln und auf die Spitze zu treiben. Und b) die totale Entkoppelung von Spielvorgang und Klangergebnis, wie z.B. in meinem Ensemblestück Anklang. Der letzte Punkt ist vielleicht der, den man als erstes erwarten würde: konkrete Bezüge zu Stücken von Mozart. Diese standen für mich kompositorisch nicht im Vordergrund, schon gar nicht als Zitate. Der zweite Satz ?Traumsequenz? (der eher ein zwischenzeitliches Abschweifen, ein Interludium ist) bezieht sich allerdings direkt auf das Adagio KV 411 (für 2 Klarinetten und 3 Bassetthörner), das ebenfalls im Frankfurter Konzert zu hören sein wird. Aus diesem Adagio habe ich wenige Takte genommen, die immer nur anklingen, sie werden nicht direkt zitiert, sondern wie in einer Tonhöhenspirale als Sequenz immer weiter nach oben gedreht, so dass sie die ganze Zeit zu hören, aber nicht wirklich greifbar sind. Der erste Satz und der dritte Satz beziehen sich auf eintaktige Strukturen aus Mozart-Stücken, die ich aber eher als Auslöser für meine eigenen Ideen benutzt habe und nicht als Grundlage für die Sätze.

Wie sieht es auf der klangfarblichen Ebene aus?


Ursprünglich wollte ich eine Harmoniemusik schreiben in der Art der Gran Partita, aber die Fülle des Bläsersatzes, die ich dafür benötigt hätte, ist mit der Ensemblebesetzung nicht machbar. Übrig geblieben davon sind als Kernklangfarben die Klarinette und - ich habe nur zwei Blechblasinstrumente besetzt - Horn und Posaune. Die Bläser sind also nach wie vor sehr wichtig. Die Klarinetten werden durch den Sampler unterfüttert, der seinerseits nur mit Klarinettenklängen arbeitet. So habe ich einen Holzbläserklang, den ich über die Vielstimmigkeit im Sampler - der Sampler als eine Art Metaklarinette - stark massieren kann. Das andere sind die Naturtoninstrumente Horn und Posaune, die beide eine ähnliche Grundtonstruktur haben. Zur Zeit Mozarts mussten Komponisten ja noch mit den verschiedenen Stimmungen des Naturhorns umgehen. Ich habe in Terzenseele einen Satz nur aus den Naturtönen des Horns und der Posaune entwickelt. Sehr virtuose Folgen, die allein auf den Obertonreihen aufbauen.

Wie setzt du in Terzenseele den Sampler ein?


Der Sampler erfüllt für mich immer eine Vielzahl von Funktionen. Er ist also eigentlich mehrere Instrumente in einem. Seine Einbindung in den Klarinettensatz habe ich ja oben bereits beschrieben. Zum anderen erfüllt er manchmal die Funktion einer Art Continuogruppe und ist ein Fundament für das ganze Ensemble. Ich kann gerade in dem Augenblick, wo das Ensemble mit Mikrotönen umzugehen hat, durch den Sampler den Satz stützen, auch im Hinblick auf die Intonation. Eine weitere Eigenart ist das klangliche Defizit des Lautsprecherklanges gegenüber den real schwingenden Instrumenten. Man kann a) versuchen, dieses Defizit durch entsprechende Mischungen zu kompensieren oder man kann b) mit diesem Defizit arbeiten. In der ?Traumsequenz? nutze ich ausdrücklich diese Eindimensionalität des Klanges, mit der der Satz beginnt. Erst nach und nach wächst der Klang in den Raum, dadurch dass die anderen Instrumente hinzutreten. Hier will ich keine Vermischung, sondern die Trennung zwischen Lautsprecher- und Instrumentalklang. Im dritten Satz dagegen gibt es z.B. eine sehr virtuose Bassklarinettenstimme, mit der der Sampler in vollen Akkorden genau parallel läuft, so dass sich bei richtiger Mischung im Idealfall so etwas wie ein vielstimmiges Klarinetteninstrument ergibt.

Aus Anklang weiß ich, dass du dich sehr mit Chromatik und Enharmonik auseinandersetzt, besonders auf mikrotonaler Ebene. Könntest du noch einmal deine kompositorischen Prinzipien im Umgang mit Mikrotonalität skizzieren.


Ich kann es zumindest kurz versuchen. Es gibt ja sehr verschiedene Ansätze, mit Mikrotonalität umzugehen. Einer davon ist die quasi physikalische Betrachtung unter Aspekten der Intervallreinheit. Das gibt es bei mir natürlich auch. Was mich im Umgang mit Mikrotonalität aber sehr viel mehr interessiert, ist eine gewissermaßen psychologische Betrachtungsweise. Deshalb benutze ich den Vergleich mit dem Phänomen der Enharmonik aus der tonalen Musik. Auch wenn es mir dabei absolut nicht um die Temperierung von Intervallen geht, sondern vielmehr um einen Zustand klanglicher Labilität. Enharmonik beschreibt ja unter anderem das psychologische Phänomen, dass ein und derselbe Ton seine Richtungstendenz umkehren kann, je nachdem in welchem Kontext er steht (aus einem # wird ein b und umgekehrt). Einmal will er sich nach oben auflösen, einmal nach unten. Solche Aspekte kann man in der Mikrotonalität forcieren. Ein Akkord ist für mich in diesem Zusammenhang wie ein Kraftfeld, dessen Punkte in verschiedene Richtungen streben. Mein Ziel ist es, die Klänge in ihrem Inneren zu dynamisieren und sie je nach Kontext zu manipulieren. Über die Mikrotonalität werden die Klänge geschmeidiger, biegsamer und verformbarer. Ich empfinde das durchaus in diesem Sinne körperlich. Ich bin lange nicht an dem Punkt, daraus ein geschlossenes System zu entwickeln. Ich glaube auch gar nicht, dass es das gibt. Es ist auch zu keinem Zeitpunkt so, dass es für einen Akkord nur eine Deutung gibt. Vor mir liegt ein Feld von Möglichkeiten und ich laufe los. Empirisch. Schritt für Schritt. Schließlich setze ich Mikrotonalität mancherorts auch einfach al fresco, als eine gezielte Unschärfe, ein.

Du hast erklärt, wie du dich auf der formalen, der satztechnischen, der klanglichen Ebene Mozart annäherst, aber die Frage bleibt natürlich, hört man das letztendlich auch? Orientierst du dich an seiner Epoche oder hört man etwas durch, was Mozart ist?


Diese Frage würde ich gerne zurückstellen: Was ist denn Mozart? Was verbindet man denn mit ihm? Das ist ja genau die Frage, die so leicht nicht beantwortbar ist. In der Regel geht das selten über ein paar gängige Klischees hinaus. Ich habe für mich versucht, Mozart auf verschiedenen Ebenen, wie eine Klaviatur zu spielen. Von den oben beschriebenen Parallelführungen als Oberflächenphänomen, bis zu den tieferen, kompositionstechnischen Bezügen. Nur, bei allem war immer ganz wichtig für mich: Mozart ist ein Ausgangspunkt, ein Auslöser. Danach gehe ich alleine weiter.

Ja, das stimmt und etwas anderes kann ja wahrscheinlich auch gar nicht das Ziel sein. Ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus: Ich glaube, viele Menschen verbinden mit Mozart eine gewisse Heiterkeit. Elliott Carter sagte einmal treffender, dass der klassische Stil im Grunde ein komischer war, also auch Abgründe aufzeigt. Für mich ist an Mozarts Musik vielmehr eine große Klangdichte bestimmend und: Seine Musik ist nicht vorhersehbar, weil er nämlich nicht so auflöst, wie ich...


...ja, genau, das merkt man in vielen seiner Instrumentalwerke. Einerseits hat man formal einfache, klare Abfolgen vor sich, andererseits weiß man nicht genau, was eigentlich als nächstes kommen wird. Wie überraschende Verbindungen kleiner dramatischer Situationen. Das hat für mich in der Komposition auch eine Rolle gespielt. Und dann natürlich das Vergnügen am Umgang mit dem Instrument. Man schaue sich nur die Konzerte bei Mozart an. Ich habe ja auch oben schon über den Aspekt der Virtuosität geredet. Es gibt Augenblicke in meinem Stück, in denen einzelne Instrumente geradezu ausbrechen. Ein Spieler wird einfach losgelassen, auch wenn er letztendlich genau Notiertes spielt. Nur: Er muss sich darüber hinaus vom Notentext lösen und zu der ganzen Freiheit des Nicht-Notierbaren vordringen, um dem Moment wirklich gerecht werden zu können. Wenn mir das als Komponist gelingt, einen Spieler - über die Vermittlung des Notentextes - zu diesem Punkt zu bringen, dann empfinde ich das jedesmal als ungeheuer befreiend. Aber das gilt - unabhängig von Mozart - eigentlich immer.

Ensemble Modern