Wenn der Zufall Genies trifft

Interview mit Heinz Holliger

Mit Heinz Holliger sprachen Ueli Wiget und Susanne Laurentius.

Ensemble Modern: Der erfreuliche Anlass für unser Gespräch ist, dass wir dich in diesem Jahr unverhofft oft haben können: Insgesamt fünf Konzerte leitest du dieses Jahr bei uns.

Heinz Holliger: Ich hab' nicht so genau gezählt.

Die Programme lassen sich unter zwei Aspekte stellen: "Italien" und "Schweiz". Den einen Schwerpunkt bilden italienische, den anderen Schweizer Komponisten, die hierzulande eher unbekannt sind, dir aber sicherlich sehr wichtig sind. Vielleicht zuerst zu den Italienern. Wir spielen Werke Luigi Dallapiccola, Luigi Nono und Bruna Maderna der 40er bis 80er Jahre. Entdecken wir hier eine alte Stilrichtung wieder, ein vernachlässigtes Programm?


Na ja, wenn ich jetzt ganz bösartig wäre, könnte ich sagen, dass - da Musik eigentlich nur noch eine Ware darstellt - jetzt mal der Zufall zugeschlagen hat. Dallapiccola und Nono sind zwei ganz geniale aber total vernachlässigte Komponisten, die beide in diesem Jahr einen runden Geburtstag feiern. Plötzlich haben alle Veranstalter gemerkt, dass es noch sehr gute Musik gibt, die auch mal aufgeführt werden könnte - neben den hunderten von unglaublich schlechten Stücken, die sonst die Programme überschwemmen. Das können wir einmal ganz kaltblütig ausnutzen. Diese schlechte Manier in der Programmierung hat jetzt mal Genies getroffen aufgrund ihrer Geburtstage. Das finde ich sehr gut.

Du meinst, das ist eher eine Reaktion auf Jahresdaten?


Überhaupt nur! Ich glaube nicht an die Liebe zu Nono und Dallapiccola seitens der Veranstalter. Die haben einfach ihren Kalender aufgemacht und gemerkt: Oh, da ist wieder einer, den müssen wir drannehmen. Wenn Nono seinen Prometeo nicht geschrieben hätte, würde man seine frühen Stück überhaupt nicht anschauen. Das ist leider so.

Nono hat also durch seinen "multimedialen Aspekt" einen Zugang in die Konzerthäuser gefunden?


Ja, und er hat in der letzten Phase seine Musik drastisch vereinfacht. Dadurch wurde auch für seine frühen Stücke klar, dass es sich hier nicht um Hirngespinste handelt, sondern um eine ganz direkt wirkende Ausdrucksmusik. Bei Dallapiccola kommt ein ökonomisches Moment hinzu: Er hatte wie Webern das Unglück, seine meisten Stücke für 10 bis 14 Instrumente zu schreiben und das liegt jenseits der Schmerzgrenze für Solistentarife. Die Spieler müssen einzeln bezahlt werden und dadurch sind die Stücke eigentlich nur Repertoire für London Sinfonietta, Ensemble InterContemporain, Ensemble Contrechamps oder Ensemble Modern. Ich würde mir dringend wünschen, dass all die genannten sich viel mehr um dieses Repertoire kümmern würden. Gerade Dallapiccola ist - wie übrigens auch Maderna - so zwischen Stuhl und Bank gefallen, da seine Musik, obschon sie kompositionstechnisch von unglaublicher Komplexität ist, weich klingt, vielleicht ein bisschen nach Tonalität. Darum halten ihn viele extreme Avantgardisten für altmodisch. Andere Vielschreiber rennen von Uraufführung zu Uraufführung, aber die meisten Werke von Dallapiccola sind kaum Teil des Konzertlebens. So reich sind wir kulturell ja nicht, dass wir uns leisten können, seine Musik nicht zu berücksichtigen.

Dallapiccola hat wahrscheinlich das etwas ältere Idiom - vergleichbar etwa mit dem frühen Schönberg.


Verglichen mit dem frühen Schönberg schon, aber wenn man Dallapiccola mit dem zeitgleichen Schönberg oder Webern vergleicht, da schneidet er sehr gut ab, weil er sich ein harmonisch viel kohärenteres System ausgedacht hat als Schönberg. In dessen späten Stücken ist die Verbindung von Sonatenform mit seiner Harmonik doch sehr fragwürdig. Während bei Dallapiccola die Mikro- und die Makrostruktur eine völlige Einheit bilden wie es nur bei den besten Webern-Stücken der Fall ist.

Das Systematische ist völlig deckungsgleich mit dem Intuitiven.


Genau. Das ist die Balance, die Mozart oder Bach erreicht haben, ein Zeichen von Genialität. Gut komponieren können viele, aber dieses Gleichgewicht zwischen Intuition und Kontrolle ist ein ganz seltenes Phänomen auch in unserer Zeit.

Maderna steht ja als Komponist fast auf einem anderen Stern als Dallapiccola oder Nono.


Es gibt so schöne Briefwechsel zwischen Nono und Maderna. Nono war zwar der Schüler von Maderna, aber auch so etwas wie sein schlechtes Gewissen, der Zeigefinger. "Hab Acht auf die Versuchungen des Bacchus", schreibt Nono, der Vernünftige, Wohlerzogene, aus gutem Hause, an den Lebemenschen Maderna. Dieser war so sinnlich, für ihn war Musik direkter körperlicher Ausdruck und Lebensfreude, Freude an der Klangvielfalt. Aber er war als völliger Profi, wie das im 18./19. Jahrhundert selbstverständlich für einen kleinen Komponisten war, sicher auch hoch kontrolliert. Er war einer der größten Dirigenten, der mit seiner unglaublich flexible Art Musik zum Atmen brachte, was nur sehr wenig Spezialisten für Modernes können. Gleichzeitig hatte er auch ein profundes Wissen von den Instrumenten. Wenn man sich dagegen frühe Nono-Stücke anschaut, merkt man, was er da schlichtweg falsch gemacht hat. Nono wusste nicht, welchen Umfang ein Glockenspiel hat, dass es zwei Oktaven höher klingt und auch für die Celesta schreibt er Noten jenseits des Tonumfangs. Die Variazioni Canoniche sind eigentlich nicht professionell orchestriert, was aber auch wieder ein Reiz sein kann. Während, wenn er für Stimme geschrieben hat, die Italianitá durchschlägt. Hier war Nono sofort zuhause. Bei Maderna findet man so etwas nicht. Er kannte jedes Instrument genau. Das ist alles von einem perfekten Können, aber auch von einer Großzügigkeit des Strukturellen.

War Maderna der expressivere Komponist?


Nein, eben gerade nicht. Nonos Musik gewinnt gerade durch die Starrheit der Zeitorganisationen - er hat das ja auch an einige Schüler weiter gegeben, dieses absolute Nicht-Rubato - unglaublich an Ausdruckskraft. Das ist das Geniale an ihm. Auch wenn er serielle Rhythmik schreibt, serielle Klangfarben, serielle Dynamik, bleibt seine Musik immer eine gesungene Musik. Da ist vielleicht etwas Archetypisches, der da immer, auch in den frühen, manchmal etwas spröden Stücken, durchschlägt. Ich möchte weder Nono noch Maderna missen. Es sind zwei völlig verschiedene Charaktere, die sich wie auf einer Waage schön in einer Balance halten.

Ich habe mehr an Maderna als den wilderen Expressiven gedacht.


Ja, er hat einen ganz direkten, unverschlüsselten Ausdruck. Bei Nono dagegen schlägt die Expression hinter einer fast maskenhaften Struktur durch, aber es ist nie diese - altmodisch gesagt - dionysische Expression, nie diese omnipräsente Körperlichkeit wie bei Maderna. Madernas Musik ist völlig körpersinnlich, gestig und sprachnah. Nono behandelt ja die Sprache fast nie direkt-sprechend. Er zerschneidet sie in Phoneme, sie wirken dann als Klangvaleurs, aber gleichzeitig erreicht er damit in Canto sospeso dass der Ausdruck trotzdem genau davon spricht, was die Worte eigentlich sagen.

Wo du gerade Canto sospeso nennst, wir haben uns gefragt, wie wichtig der politische Aspekt heute noch ist - auch für dich?


Also, ich habe von einem der größten Organisatoren in Deutschland kürzlich einen Spruch gehört, der mich unglaublich wütend gemacht und schockiert hat. Ich wollte ein Stück eines Schweizer Komponisten über den Holocaust machen, und der Veranstalter sagte, dass so etwas heute nicht mehr zu programmieren sei. Da habe ich eine freche Antwort gegeben und gefragt, ob der Grund sei, dass Stuttgart jetzt einen am Bahnhof neu eingerichteten Kurt-Georg-Kiesinger Platz habe, das war so ein Edelnazi. Canto sospeso ist politisch ganz sicher höchst aktuell. Aber das ist auch Bachs Matthaeus-Passion, diese Werke sind weder zeit- noch parteigebunden. Sie thematisieren Probleme, die es jeden Tag überall gibt, auch wenn Gefangenschaft heute ein bisschen raffinierter versteckt wird.

Also der politische Hintergrund des Stücks...


Politischer Hintergrund, diesen Ausdruck finde ich zu wenig stark. Es ist ein humanistisches Stück. Wir können am Schluss auch von unseren shareholder values, von unserer Wachstumsobsession (unseren neue Religion) oder unserer Internetobsession versklavt werden. Man kann so von allem in Gefangenschaft genommen werden, wenn man nicht mehr frei denken, nicht mehr frei atmen kann und davon handelt Canto sospeso auch - neben der politischen Gefangenschaft, dass Leute eingefangen werden, weil sie anders denken als die Allgemeinheit.

Also ist für dich der humanistischen Aspekts genauso wichtig wie der musikalische?


Ganz sicher! Aber wenn Stücke sich nur auf dem humanistischen Nebenschauplatz abspielen, es gibt ja einige mit sehr ähnlichen Botschaften, aber jämmerlich schlechter Musik, sollten diese nicht gespielt werden. Man spielt Nono nicht nur, weil es grandiose Musik ist und weil es von diesem Thema spricht, sondern weil Musik und Botschaft zu einer Einheit zusammenwachsen. Musik ist nicht nur das Transportmittel von politischen Gedanken, wie das leider manchmal der Fall ist.

Noch mal zurück zu Italien, wenn man eine Reihenfolge aufstellt: Dallapiccola, Maderna, Nono - siehst du eine Konsequenz in heutiges italienisches Schaffen hinein?


Ich kenne so wenige junge italienische Komponisten. Ich finde, dass fast die ganze Nachfolgschaft in "Donatoninos" besteht. Sicher, Donatoni war ein sehr guter Lehrer, aber er hat in einer Art gelehrt, dass er ganz viele Epigonen gezüchtet hat. Es gibt jede Menge von Donatoni-Nachfolgern. Dagegen kenne ich eigentlich kaum einen jungen Dallapiccola-Nachfolger, aber wie gesagt, kenne ich nicht so viele.

Wäre bezüglich Nono eher - neben Helmut Lachenmann - Nicolaus A. Huber zu nennen als ein, wenn man so sagen darf , "Nono-Schüler", wobei diese Bezeichnung vielleicht zu stark ist?


Nono hat sicher mehr über ihn und Lachenmann gewirkt als direkt in Italien. Ich glaube Nono wird auch in Italien nicht wirklich, also affektiv geliebt. Nicolaus A. Huber hat sicher vieles von ihm übernommen, gerade im Umgang mit Zeit. Er kam ja eigentlich aus einer völlig anderen Ecke: von Günter Bialas oder sogar ganz früh von der Spielmusikästhetik. Durch Nono wurde er ganz bewusst auch strukturell geschult ...

... und hat auch politisch einen wichtigen Anstoß bekommen.


Ja, das stelle ich mir auch so vor. Das hat ihn sicher stark geprägt und das ist auch gut so, aber ich finde auch, dass man ihn nicht darauf reduzieren darf - ich will Bach ja auch nicht nur auf sein Luthertum reduzieren oder Schönberg auf seine Monarchiegläubigkeit oder Debussy auf seinen Nationalismus der letzten Jahre. Das ist schon ein Teil von allem, aber ein Mensch ist eben mehr als nur seine politische Überzeugung, wobei die wahrscheinlich schon Ausdruck ist von ganz vielem in ihm drin. Auch der "Politiker" Nono wäre nicht, was er eigentlich ist: ein wichtiger Komponist. Natürlich muss jede Musik eine Botschaft haben, aber wenn sie nur auf die Botschaft reduziert ist, schmälert das ihren Wert.

Kannst du denn schon etwas zu dem neuen Werk von Nicolaus A. Huber sagen, das am 25. April in Witten uraufgeführt wird?


Bisher habe ich nur eine ganz kleine Partitur in Einzerlblättern, die ich allerdings schon gut angeschaut habe. Ich finde den Untertitel "Musik mit Neglect-Syndrom" etwas schockierend, wenn man weiß, wie furchtbar diese Krankheit für die betroffenen Menschen ist. Das ist ein bisschen ein Spiel mit dem Feuer. Musikalisch ist das Stück sehr überzeugend. Es ist eigentlich Musik, die einen zwingt, den direkten Ausdruck zu bewahren; eine manchmal sehr rhythmisch bewegte, sehr direkt wirkende Musik, aber gleichzeitig hat es eine Struktur, die völlig unkörperlich ist, völlig kopfig wie wir in der Schweiz sagen würden. Es gibt Takte, da hat es gar keinen Sinn, dass ein Dirigent da ist und dann 47/8 schlägt oder ähnliches. Die Zeitstrukturen schneiden dann ganz erbarmungslos in den Diskurs ein. Dadurch wirkt diese Musik auch wieder ähnlich doppelgesichtig wie die von Nono. Zu einem starren strukturellen Korsett gesellt sich die ganz direkte Ausdruckskraft. Messerscharfe Logik, bricht sich in surrealistischen Elementen, fast rituelle Statik kippt um in Gesten des "absurden Theaters".
Was mich allgemein ein bisschen stört, ist, dass keiner der Komponisten Mikrotöne gleich notiert. Das ist ein bisschen unfreundlich dem Interpreten gegenüber. Da müsste man sich endlich mal auf irgendeine Weise einigen, aber jeder meint, er macht es am besten.

Das ist ja allgemein ein Problem.
Ja, aber jetzt wird so vieles in kleineren Intervallen geschrieben.

Vielleicht kannst du uns noch ein bisschen zu den Schweizer Komponisten sagen. Klaus Huber ist natürlich bei uns bekannt - ganz im Gegensatz zu Jacques Wildberger und Roland Moser.


Jacques Wildberger ist jetzt 81 und komponiert nicht mehr. Er hat sicher die tiefschürfendsten Dallapiccola-Analysen geschrieben, gerade über die Liriche Greche und die Cinque Canti und auch sein ganz spätes Streichquartett heißt ebenfalls Commiato - wie Dallapiccolas letztes Werk. Über Wladimir Vogel ist er Dallapiccola und Nono sehr nahe - auch in seinen humanistischen Botschaften. Er ist übrigens der Komponist mit dem Holocaust-Stück, über das ich vorhin gesprochen habe. Es ist für mich relativ unbegreiflich, dass die Aufführungen seiner Musik pro Jahr an zehn Fingern abzuzählen ist, da es eine musikalisch wie inhaltlich sehr kunstvolle und Musik ist, vor allem seit den 70er Jahren, als er auch direkte politische Botschaften eingebracht hat, seine Musik aber gleichzeitig an Weite, an größerem Atem gewonnen hat. Das ist bis heute noch nicht richtig zur Kenntnis genommen worden. In der Schweiz wurde er in den 70er/80er Jahren ein bisschen aufgeführt, aber jetzt ist das wieder eingeschlafen. Wir spielen in Witten sein Kammerkonzert. Die Erkundungen im Sechsteltonbereich. Auf den ersten Blick scheint das Stück vielleicht relativ traditionell, aber die Behandlung der Sechsteltonskalen ist beeindruckend, da es unendlich genau gehört klingt. Auf ähnliche Weise hat Kurtág in Éetút (Lebensweg) im Viertelton verstimmten Klaviere benutzt. Aber Wildberger überzeugt mich mehr, da er keine dicken Akkorde schreibt, sondern Figurationen, die, um Sechstel- um Dritteltöne verschoben, hintereinander klingen und so eine Vieldimensionalität von großer Transparenz ergeben. Er hat schon immer viel Mikrointervalle als Erweiterung der extremen Chromatik eingesetzt. Das Kammerkonzert ist das erste und einzige Stück, wo er die Mikrotonalität in dieser Weise gebraucht. Vielleicht wurde es ein bisschen spielerisch durch das Instrumentarium mit den vier Tasteninstrumenten.

Wo steht Roland Moser mit seinem Schaffen?


Roland Moser ist ein bewundernswert genauer Komponist mit einem sehr guten Gehör, der oft sehr bedächtige Musik schreibt, Musik, die sich immer selbst reflektiert. Oft sind seine Stücke sehr introvertiert, sehr wenig spektakulär was die Virtuosität betrifft. Es ist eine sehr nach innen gewandte Musik, entwickelt aber in seiner sehr erfolgreichen Oper Avatar ein unglaublich großes Ausdrucksspektrum. Mir gefällt seine Musik sehr. Er hatte übrigens den gleichen Lehrer wie ich: Sándor Veress.

Ist eine sprachliche Verwandtschaft zu Veress vorhanden?


Eindeutig bezüglich Veress' Credo, dass es eine Sünde ist, eine Note überhaupt aufs Papier zu bringen, hinter der man nicht völlig stehen kann. Moser hat allerdings nicht das motorisch-spielerische, das ungarische. Trotzdem gibt es bei ihm auch die genaue Zusammenfügung von Linearität und Harmonik, die Polyphonie ist immer harmonisch gestützt, so wie man es bei Bach so gut lernen kann und was so selten in der modernen Musik ist. Dieses Problem ist bei ihm extrem gut gelöst.

Also kann man bei Roland Moser von einem ganz eigenartigen Stil sprechen?


Ich finde, dass er eine sehr eigene Persönlichkeit ist. Er war zeitlang Mitglied des "Ensemble Neue Horizonte Bern", wo er auch improvisatorische Dinge gemacht hat, allerdings mehr als Gegengewicht zu seinem sonstigen Denken. Er ist literarisch unglaublich gebildet. In seinem Brentano-Zyklus komponiert er die ganze Umwelt von Brentano mit dazu. Auch seine Heine-Lieder gehen sehr weit in einer Zeit, wo man Liederzyklen einfach am Meter hört über irgendeinen Dichter, möglichst Célan, und dann werden diese Gedichte einfach so runter komponiert. Moser hat eine ganz andere Art. Mich entzückt einfach auch, wenn ein Komponist so genau hört, was er schreibt. Das ist leider so unendlich selten. Er ist zudem ein sehr guter Lehrer und hat wirklich viel Einfluss auf die Jungen in der Schweiz.

Wie kann ich mir jetzt die Klanglichkeit des neuen Stücks Oszillation und Figur vorstellen? Das hört sich ja alles sehr introvertiert, fast dunkel an...


Ich habe die Partitur noch nicht gesehen und da seine Stücke relativ verschieden klingen, ist es schwer, eine Voraussage zu machen. Oszillation und Figur hat den Untertitel "aus den Ritterfragmenten" und bezieht sich auf die Schriften des Physikers und Wissenschaftlers Johann Wilhelm Ritter, der fast verwandt oder gar die theoretische Formulierung von Novalis ist. Das Stück ist nie überladen. Moser hat nicht wie ich oder Brian Ferneyhough den "Horror Vacui". Er schreibt nur Noten, die unbedingt nötig sind. Es gibt da einige Berührungspunkte mit dem befreundeten Kurtág, der ihm ja einige Stücke gewidmet hat. Moser ist aber der Kontrolliertere, nicht der direkt Intellektuelle, aber der, der jede Note zehnmal umdreht bis sie stimmt.

Wir sollten noch auf Klaus Huber zu sprechen kommen, Klaus Huber, der ja ein langjähriger Weggefährte von dir ist.


Ich kenne Klaus Huber seit 1958. Gerade habe ich ein Studienjahr entworfen, das Klaus Huber in den Mittelpunkt stellt, damit den heutigen Schülern wieder bewusst wird, wie viel Musik sie nicht kennen. Dazu kommt, dass wir bei seiner Musik so unheimlich gut verschiedene Institute mit einzubinden kann: die Abteilung für Alte Instrumente, die Schola Cantorum, Spezialisten für verschiedene Stimmungen, das musikwissenschaftliche Seminar, das von der Regierung gerade finanziell auf die Hälfte herunter guillotiniert worden ist. Ich verlange auch, dass alle Instrumentalisten für ihr Diplom Musik von Klaus Huber spielen. Ich hab das Jahr angefangen mit der Oratio Mechtildis, eine Kammersymphonie mit obligater Altstimme nach Mechtild von Magdeburg aus dem Jahr 1956, aber überhaupt nicht verstaubt. Es war das erste Stück, das ich von Klaus Huber kennen gelernt habe.

Wir machen u. a. Auf die ruhige Nacht-Zeit zusammen.
Das ist zwei Jahre später geschrieben als die Oratio Mechtildis, wo sich Huber in der Orchesterbehandlung, im linearen Denken noch auf seinen Lehrer Willy Burkhard, dem Vertreter des "Schweizer Neobarock", bezieht. In Nacht-Zeit entwickelt er, unabhängig von seinen Lehrern Willy Burkhard und Boris Blacher, ein Gespür dafür, was er als Komponist entdecken will: schwerelose Klanglichkeit, eine fast schwebende Behandlung der Zeit, der Rhythmik. Was Huber hier innerhalb einer ganz kontrollierten Form mit nur drei Instrumenten und Stimme erreicht, ist ein wahres Klangwunder. Er hat sich damals extrem mit Symmetrie beschäftigt, hat ganz genaue Krebsformen geschrieben. Das war für ihn beinahe ein Abbild der Weltenordnung, des Kosmos. Z.B. seine Soliloquia, das Augustinusoratorium, hat diesen Abschnitt Cuius legibus rotantur poli, wo diese Gesetze eine ganze Welt in Bewegung halten und die Symmetriestruktur das Abbild seiner mystisch-religiösen Vorstellungen sind. Dieses Modell hat er Schritt für Schritt differenziert und führt es später zu unendlich komplizierteren Strukturen.

In seinem Orchesterwerk Die Seele muss vom Reittier steigen ... von 2002 spielt Mystik ja auch eine große Rolle und viele sehen dieses Werk als eine Art Quintessenz seines Schaffens an.


Er hat einen mühelosen Übergang in die humanistische Botschaft gefunden oder auch in ganz direkt politische wie mit seinem Nicaragua-Stück, zu Freiheitsbewegung, Freiheitstheologie. Auch in der Freundschaft mit Nono wurde das Komponieren nicht nur als politische, sondern vor allem menschliche Botschaft ganz wichtig. Das bekommt manchmal fast etwas Missionarisches, eine Erlösermystik. Klaus Huber ist deswegen immer noch der gleiche Mensch mit seinem immer gleichen Anliegen, Unterdrückten eine Stimme zu geben. Das macht er ganz anders als Nono. Nicht in einer starren, rituellen Sprache, sondern in einer völlig introvertierten Art zu komponieren. Seine Musik geht ganz nach innen und wirkt weit über die politische Botschaft hinaus. Die Seele muss vom Reittier steigen... entstand durch die zufällige Entdeckung eines in Le Monde veröffentlichten Gedichts des palästinensischen Schriftstellers Mahmoud Darwisch. Ein Schüler von Younghi Pagh-Paan hat Huber dann in die arabische Sprache eingeführt. Er hatte ja schon einige Stücke etwa mit Sufi-Mystik geschrieben. Mit seinem sensiblen Gehör schreibt Huber hier völlig stimmig Drittel- und Sechsteltöne in den Streichern. Alles basiert auf den natürlichen Obertönen und durch die Drittelteilung des Ganztones - Halbtöne vermeidet er - ist er eigentlich genau auf dem Weg zur untemperierten Stimmung, wo ein c-es eben anders klingt als ein c-dis. Er war ja Geiger und Bratsche und kennt Streichinstrumente wirklich genau. Dahinter steht kein Axiom, sondern eine Idee, die aus der Klangindividualität heraus wächst.

Klaus Huber hat durch seine Lehrtätigkeit eine andere Tradition - es gibt wahrscheinlich einige, die in seiner Nachfolge stehen.
Aber gleichzeitig finde ich, dass, gerade verglichen mit Donatoni oder Lachenmann, die Qualität von Klaus Huber ist, dass es sehr wenige Epigonen gibt. Klaus Huber kann jeden in seiner Individualität lassen und angemessen fördern. Vielleicht ein bisschen so wie es Schönberg machte mit Berg und Webern. Die Proben zu Oratio Mechtildis waren für ihn fast eine Wiederentdeckung seiner Jugend. Wie er die Sängerin mit wenigen Worten dazu bringt, so zu Phrasieren wie er das möchte, so eine klare Vorstellung ganz ohne abgehobene Theorien, sondern ganz einfach mit wenigen klaren Worten. Ein ganz großer Pädagoge.

Wir kennen am ehesten das Idiom von Klaus Huber durch Erinnere dich an G., das wir häufiger auch mit dir gemacht haben. Dabei steht er mit seiner Sprache aber noch nicht an einem Endpunkt der Entwicklung.

Nein, ganz sicher nicht. Es ist erstaunlich, was er für eine unglaubliche Weite er gerade über die Oper Schwarzerde und jetzt eben mit Die Seele muss vom Reittier steigen... wieder gewonnen hat. Diese mikroskopisch genaue strukturierte Musik ist bis ins Feinste austariert. Trotzdem hat er eine unglaubliche Großzügigkeit, die er manchmal in ganz introvertierten Stücken vielleicht bewusst nicht zeigt. Die Mandelstamm-Oper Schwarzerde und auch dieses Gedicht von Darwisch sind sicher leichter zugänglich für ein Publikum als die frühe Streichquartettmotette Canzión oder Soliloquia. Auch wenn seine Musik einen sehr weiten stilistischen Fächer hat, ist er aber als Individuum so stark, dass immer wieder Klaus Huber durchschlägt.

Wir machen - allerdings mit Reinbeert de Leeuw - die Liriche greche von Dallapiccola, Maderna und als Uraufführung von Nono. Kennst du das Werk?


Nono und Maderna kenne ich leider gar nicht. Ich bin mir aber sicher, dass sowohl Nono als auch Maderna von Dallapiccola angeregt waren. Auch wenn sie dann zu ganz anderen, unabhängigen Resultaten gekommen sind. Salvatore Quasimodo hat sie ins Italienische übersetzt und damit für die italienische Kultur fast eine Nische geschaffen - auch für Dallapiccola waren diese griechischen Gedichte mitten in der Zeit des Faschismus 1942 und dann 1944 als in Italien die Nazigräuel begannen fast ein Ruhepunkt, ein Refugium, wo er sich ganz auf diese Dichtung zurückziehen konnte. Er ist ja von Zuhause weg, weil seine Frau gefährdet war und hat sich in die Nähe von Fiesole bei Freunden versteckt. Dort hat er seine Liriche greche komponiert. Sie sind eine Musik der Innenschau, während er dann in seiner Oper Il Priginiero ganz nach außen gegangen ist und laut angeklagt hat.
Dass die Canti di prigioniro mit canto Sospeso zusammen kommen, war für mich eigentlich eine Conditio sina qua non. Vielen italienischen Intellektuellen war ja am Anfang die Gefahr des Faschismus gar nicht so bewusst. Ungarett, Pavese auch Dalapiccola waren gar nicht so "anti" eingestellt. Erst 1938 wurde ihm die auch physische Gefahr deutlich. Dann schrieb er mit den Canti ein Werk, das im Gegensatz zu Canto sospeso, fast seicht wirkt. Dallapiccola geht den Menschen überhaupt nicht aggressiv mit seiner Botschaft an, sondern gewinnt ihn langsam, bis dieser merkt wovon das Stück handelt, dass ein Boethius oder eine Maria Stuart in der Gefangenschaft Symbole für Dallapiccolas eigene Isolation im Faschismus sind. Es für eines der ergreifendsten Werke, die ich innerhalb der ganzen modernen Chorliteratur kenne, ähnlich großartig wie die Psalmensinfonie von Strawinsky. Und im Gegensatz zu Nono ohne den kleinsten Makel was die Instrumentierung oder den Chorsatz betrifft. Es zeugt von großer musikalischer Vollkommenheit und wird trotzdem so selten gespielt - obwohl es sehr publikumswirksam ist. Aber jetzt, dank des Kalenders, kommen doch alle Menschen noch dazu, zu merken, was sie alles verpasst haben.

Ensemble Modern