Ich bin beinahe im Theater geboren

Interview mit Salvatore Sciarrino

Eigentlich war für diesen Sommer die Aufführung von Salvatore Sciarrinos Oper "Luci mie traditrici" im Frankfurter Bockenheimer Depot geplant. Sie wurde ein Opfer der Sparzwänge. Statt dessen spielt das EM nun unter dem Motto "Aus Italien" Werke italienischer Komponisten - darunter natürlich auch Sciarrino, mit dem Catherine Milliken und Susanne Tegebauer anlässlich der Aufführungen seiner Oper "Macbeth" in 2002 über Oper, Gesang und Tradition sprachen.

Ensemble Modern: Wir durften gerade Macbeth" mit Ihnen machen, wo man die Behandlung des von Ihnen zusammengestellten Librettos, der Stimmen, des Bühnenorchesters, der Klänge im Raum erleben konnte.Wie sieht das bei "Luci mie traditrici" aus? Beide Opern entstanden aus "alten" Stoffen.


Salvatore Sciarrino: Ja, ich bin ein wenig überrascht, dass Tradition und Moderne so getrennt werden.Was für mich klar ist, scheint es nicht für andere zu sein. Ich möchte wirklich das Theater reformieren. Alle menschlichen Geschichten sind alt. Wir müssen alte wie neue Geschichten mit modernem Sinn füllen. Das erste Problem heutzutage besteht darin, einen Vokalstil zu entwerfen. Ich komponiere in diesem Bewusstsein. Wir haben heute zwei verschiedene Tendenzen in unserer musikalischen Welt: Eine ist der komponierte Gesang, der heute überholt ist. Die andere ist der billige lyrische Gesang. Das sind die zwei bestehenden Pole. Ich habe einen anderen Weg eingeschlagen.

Nun haben ja "Macbeth" und "Luci" eine ausgesprochen dramatische Entwicklung. Wie sind Sie auf ihren Weg gelangt?


Meine Opern sind ganz aus der Kraft des Theaters geboren. Da war zuerst die Arbeit über die menschliche Stimme, wo ich zwei Kräfte vereinen kann: Die Kraft der Musik und die Kraft des Wortes, damit auch letztere als Organismus begriffen wird.

Ist das etwas typisch Italienisches?


Nein. Das ist die Utopie meiner Phantasie, meiner Ideen. Für mich ist das Theater so wichtig, da wir meines Erachtens auf eine Zeit zusteuern, in der die Menschen getrennt leben. Wir sind nur scheinbar eine Gesellschaft. Dieser Moment des Bewusstseins, zusammen zu sein, eins zu werden, kann in der heutigen Zeit gerade durch die Kraft des Theaters entstehen. Damit müssen wir uns sehr ernsthaft auseinander setzen. Viele Probleme der Avantgarde haben sich mit der Zeit aufgelöst - andere müssen mit Entwürfen und Arbeit gelöst werden. Wir brauchen neue Ideen. Unsere Kreativität kann die alten Probleme in ein neues Licht rücken.

Sie pflegen einen sehr bewussten Umgang mit Tradition.


Ja, aber Tradition ist die Antwort, und wir müssen neue Fragen stellen. Wir müssen neben aller Modernität unsere Identität als Frucht der Vergangenheit erkennen. Die Schwäche der Avantgarde war, die Geschichte abzuschneiden. Die Geschichte ist keine lineare Entwicklung. Der Chor am Ende von "Macbeth" z.B. ist wichtig, um zu wissen, dass wir, wenn wir gehen, immer erinnern müssen. Die leere Bühne mit geöffneten Türen: das ist ein Abschied, eine Botschaft. Um zu Mozart zu gelangen, kann ich nicht einfach von Schönberg aus zurück über alle Komponisten gehen, bis ich dort ankomme. Nein, die Kultur hat eine multiple Radialform.

Was bei den Stimmen sehr beeindruckt ist das fast Rezitativische, die gesanglichen Mittel, die sehr differenzierte Dynamik ... das wirkt geradezu psychologisch.Was kommt für Sie zuerst, der Gesang oder der Text?


Das ist nicht das Problem, sondern lediglich ein Schema. Und ich mag es nicht, schematisch zu sein. Mein Eindruck ist, dass Sie nur nach Einzelheiten fragen und nicht nach dem Ganzen.Wenn ich ein neues Werk erdenke, stelle ich mir dieses als einen Kosmos vor. Es gibt alle diese Einzelheiten, aber es ist unmöglich von diesen ausgehend zu einem Sinn zu gelangen. Für mich heißt komponieren nicht, verschiedene Sachen zusammen zu stellen. Damit Sie verstehen, wie es möglich ist, dass ich alles mache - den Text, die Musik, die akustischen und technischen Probleme, die Intensität dieser Musik - sage ich: Es handelt sich um eine Schöpfung. Hinterher können Sie all' die einzelnen Dinge sehen. Ich komme aus der Zeit des Serialismus, aber ich habe eine organische Vorstellung von Musik. Sie müssen auch bedenken, dass meine ersten Kompositionen von 1959 sind. Das erste Konzert fand 1962 statt. Und mein aktueller Katalog beginnt 1966 und reicht bis heute. Als ich zu komponieren begann, schrieb Boulez die "Improvisation sur Mallarmé". Das war für einen jungen Mann ein gutes Modell, eben im gleichen Moment geboren.

Hilft Ihnen diese Utopie, die Wahl eines bestimmten Stoffes für das Libretto? Suchen Sie nach neuen Texten?


Nein, ich finde sie. Ich arbeite sehr langsam, was die Ideen, Skizzen, Strukturen angeht, aber ich bin dann sehr schnell beim niederschreiben.

Es gibt ja noch andere Gesualdo-Opern. Von Hummel, Schnittke...


...und auch noch eine Puppenoper von mir: "Terribile e spaventosa storia del Principe di Venosa e della bella Maria" (1999). Ich kenne auch die anderen. In Deutschland denkt man, dass "Luci mie traditrici" sich wirklich um das Leben von Gesualdo dreht. Das Libretto ist doch von mir. Diese Verbindung mit Gesualdos Leben ist eine Interpretation, die von mir stammt.

Sie beziehen sich aber schon auf die Intrige der Vorlage: Liebe, Eifersucht, Mord.


Es ist wichtig, zunächst bis an die Grenzen zu gehen, um wieder zum alltäglichen Leben zurück kommen zu können.

"Luci" klingt, so schrieb Klaus Geitel, unter der Bettdecke hervor, wo Liebe und Mord geschehen. Hat das vielleicht auch mit Ihrem Kosmos zu tun, wie sich die Idee in Musik wiederspiegelt?


Er spricht hier, glaube ich, sehr synthetisch einen ganz wichtigen Faktor meiner Musik an: Diese Musik ist so klein, so nahe an der Grenze der Wahrnehmung, wie es das vorher nie gab. Da öffnet sich eine tiefe Welt und die Musik lässt die Leute mehr hören und mehr fühlen.

Ich dachte eher, dass die Handlung, auch wenn sie sich nicht dramatisch niederschlägt, sondern eher als Charakterbeschreibung, musikalisch reflektiert wird.

Ja und dann verstehen Sie auch, warum der Gesangsstil für mich so wichtig ist. Einige könnten denken, dass meine letzten Opern gesprochen sind, aber das ist nicht wahr, auch wenn es vielleicht so scheint. Ich gebrauche zwei große Artikulationsarten: Eine ist schnell und syllabisch bei gleichzeitigem langsamem Glissando in der Tonhöhe. Daher kommt ein Eindruck des Nicht- Temperierten. Dann gibt es noch einen eher lyrischen Gesang, wo die alten Intervalle nicht erkennbar sind, da dieser Stil besondere Prozesse benötigt. Beständigkeit und Überraschung spielen dafür eine wichtige Rolle. Wenn einige Intervalle liegen bleiben und andere allmählich eingeführt werden, klingen diese neu. Mit dieser Technik kann alles neu klingen. Das ist eine psychologische und formelle Technik. Es war ein Problem im Musiktheater, lyrisch sein zu wollen. Dann klingt alles so alt und rhetorisch. Ein Lösung dafür zu finden, ist mir sehr wichtig. Das Problem ist nicht, etwas nie Gehörtes zu schaffen, das Problem ist, neu zu hören. Wir müssen das Ohr regenerieren. Altes muss neu gehört werden.

So wie bei den Intermezzi von Claude Le Jeune in "Luci"?


Das ist eine Parallel-Geschichte. Da ist die Aktion auf der Bühne und dazwischen gibt es etwas, das sich sehr langsam verändert und wovon am Ende fast nichts übrig bleibt. Das ist die Auflösung dieser Musik. Nach Einstein ist die Zeit nicht nur für die Musik, sondern auch für das Theater eine andere geworden. Und zwei parallele Geschichten - das ist für mich modernes Theater.

Warum auf deutsch: "Die tödliche Blume"?


Der Titel war nicht übersetzbar. "Die verräterischen Augen" ist so schlecht. Dann habe ich diesen Titel gegeben.

Sehr poetisch...


...aber auch sehr stark und sehr grausam.

Haben Sie schon einmal Regie geführt?


Nein, das kann ich nicht - trotzdem ich beinahe im Theater geboren bin. Mit sechs Jahren war ich das erste Mal dort. Und mein erster Beruf war Lichtinspizient, ich war 18 Jahre alt. Und mit 30 Jahren wurde ich Theaterdirektor in Bologna.

Sind Ihre Ideen für die Inszenierung denn auch beim Komponieren schon sehr konkret?


Manchmal. Aber das kommt von der Methodologie von Kreativität. Es gibt verschiedene Aspekte von Kreativität und eine ist Intuition. Das ist eine Art von direkter Kenntnis. Nicht allein rationelle Kräfte sind wichtig, da diese nur einen sehr kleinen Teil unserer Möglichkeiten ausmachen. Aber ich muss wählen zwischen den verschiedenen Möglichkeiten und wählen heißt immer, eine zu nehmen und eine andere zu lassen. Ich schreibe nicht, was mir in den Sinn kommt, sondern suche immer nach einer Verbindung zwischen dem, was ich finde und was ich finden wollte. Die Ideen wachsen auch. Für einige Arbeiten gab es eine Zusammenarbeit mit Mitarbeitern. Die Arbeit an einem neuen Werk wird immer schwerer, besonders nachdem man ein gutes Werk geschrieben hat.

Herr Sciarrino, Sie sagten einmal: "Ich wäre reich, wenn ich nicht immer mehr Geld ausgäbe als ich verdiene." Wofür geben Sie gerne Geld aus?


Für Bücher. Kunstbücher sind in Italien sehr teuer. Aber ich liebe moderne und alte Kunst. Ich stelle mir immer ein Museum so gemütlich wie ein Wohnzimmer vor oder umgekehrt eine Wohnung, die voll wunderschöner Dinge ist, gerade so wie ein Museum.

Ensemble Modern