Fragebogen Charlotte Seither

PERSÖNLICHER WERDEGANG

Stellen Sie sich bitte kurz vor. Was ist für Sie wichtig - auch außermusikalisch?
Wichtig ist mir die - wie auch immer geartete - Freiheit, mich nach meinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen weiterentwickeln zu können. Dazu gehört das gar nicht so banale Glück, gesund zu sein, wie auch der Umstand, von meiner Arbeit leben zu können, die eigenen Kräfte also nicht an Dritte verkaufen und zwischen eigentlicher und uneigentlicher Lebensaktivität unterscheiden zu müssen. Im Außermusikalischen sind es Menschen, die mir wichtig sind. Ich wäre ärmer ohne sie.

Kann man heute vom Komponistsein leben?
Man kann es - wird sich aber jeder Forderung nach einer 40-Stunden-Woche, einem 13. Monatsgehalt, Umzugshilfen, Mindestlohn, Urlaubsgeld, Trennungsgeld, Überstunden, Krankschreibung oder bezahlten Ferien entziehen müssen.

Wie komponieren Sie?
Ausgangspunkt ist zunächst eine Art vorsprachlicher Zustand, eine Idee oder ein imaginärer Raum, in den ich schließlich hineinkomponiere. Ich beginne ein Stück stets vom Anfang her, wobei ich die musikalische Textur immer gleich vollständig ausarbeite und erst weitergehe, wenn alles steht. Das Stück entsteht somit von vorne nach hinten, wobei ich für mich selbst parallel eine Art Gedächtnisprotokoll anfertige, das mir verdeutlicht, wie sich die harmonischen Zusammenhänge bislang gestalten. Abgesehen vom Impetus zu einem Stück, der Frage, wo sich wie sein Ort gestaltet, entscheide ich im konkreten Kompositionsprozess dann vollständig frei. Wenn das Stück fertig ist, überarbeite ich es meist noch ein oder zwei Mal komplett und gleiche die nun gemachten Erfahrungen an das Ganze an. Grundsätzlich schreibe ich eher langsam und arbeite in vielen kleinen Schritten, oftmals in mehreren Sitzungen pro Tag.

Inwieweit bedienen Sie traditionelle "Gattungen"?
So ich bislang für eine traditionelle Gattung geschrieben habe (ein Streichquartett, ein Klaviertrio), hat es vorab einen längeren Prozess der Annäherung und Abstoßung gegeben, in dem ich versucht habe, die Koordinaten einer solchen Gattung für mich selbst neu zu bewerten/übersetzen. Nicht selten habe ich dabei beobachtet, dass, je weiter ich glaubte, mich von einer Fragestellung gelöst zu haben, ich umso näher wieder - auf anderer Ebene - am Ausgangspunkt angekommen war.

Wie viele Kompositionsaufträge erhalten Sie und wie kommen diese zustande? Warten Sie auf Aufträge und richten sich nach den Anforderungen oder reichen Sie fertige Kompositionen ein?
Das Zustandekommen von Aufträgen ergibt sich meist aus einem ganzen Geflecht von Faktoren (Folgeprojekte von früheren Aufträgen, weiterführende Zusammenarbeit mit Ensembles, Engagement des Verlags, Empfehlung Dritter, Aufträge, die ganz von außen kommen.) Es sind meist mehr, als ich absolvieren kann (ich schreibe jährlich zwei bis drei Stücke), wobei ich mitunter auch spannende Projekte, die ich gerne realisiert hätte, absagen muß. Sehr gerne schreibe ich für Sänger, Ensembles oder Instrumentalisten, die ich kenne, wobei mich die besondere Persönlichkeit eines Musikers meist stärker inspiriert als ein abstrakter Besetzungsrahmen.

Wie beurteilen Sie die Lage von Komponisten heute im Vergleich zu vor 50 Jahren oder 150 Jahren?
Besser und schlechter. Zumindest haben wir heute künstliches Licht, Kopiergeräte, bleifreie Schreibwerkzeuge und sterben nicht mehr an Blinddarm-Entzündung. Umgekehrt mögen die Komponisten vor 150 Jahren vielleicht weniger unter der Entfremdung ihrer Lebensgrundlagen, der industriellen Massenproduktion von Lebensmitteln oder der Verschmutzung von Luft und Wasser gelitten haben.

Welche Musik hören Sie privat?
Ich liebe Klaviermusik (Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Busoni), sie hat mich von jeher eingenommen. Daneben höre ich Alte Musik (Aufnahmen mit Philippe Herweghe, Andreas Scholl oder Musica Antiqua Köln) Meine Lieblings(hör-)Komponisten sind Monteverdi, Scarlatti, Schütz, Bach, Schubert, Schumann, Brahms und Mahler. Neue Musik höre ich fast ausschließlich im Konzert (was sich in Berlin gut einrichten lässt) oder aber zu Studienzwecken zu Hause).

AUSBILDUNG

Was ist wichtig für die Lehrzeit von Komponisten?
Ich denke, es ist am wichtigsten, zu den Wurzeln der eigenen Identität vorzudringen und dabei zu lernen, wie diese sich möglichst differenziert weiterentwickeln lassen. Schließlich muss man einfach Erfahrungen sammeln, d.h. Stücke schreiben und die Dinge auf einer anderen Ebene neu reflektieren. Für all dies ist ein geistiges Umfeld erforderlich, das die eigene Position stets kritisch hinterfragt, das in anderen Punkten jedoch hilft, Dinge wachsen zu lassen.

Müssen Sie sich als Komponist weiterbilden und wenn ja, wie?
Ich brauche immer wieder den Input, Musik im Konzert zu hören, gehe also gerne zu Festivals und anderen Aufführungen. Dies gilt für eine Mahler-Sinfonie ebenso wie für ein Konzert der Kroumata-Percussion. Musik zu hören macht einfach Lust, selbst Musik zu machen. Die entscheidenden Impulse ereignen sich dabei jedoch meist in ganz nebensächlichen Zusammenhängen.

Wie beurteilen Sie die Ausbildung an den Hochschulen?
Sie hängt sehr von den Menschen ab, die sie betreiben, so dass das, was an verschiedenen Orten geschieht, mitunter sehr unterschiedlich ausfallen kann. Niemand wird allein aus der Tatsache, dass er Komposition studiert hat, Komponist. Gleichzeitig wäre zu kritisieren, dass dies bisweilen mit einem regelrechten Etikettierungsfetischismus einhergeht: Nicht selten fungiert die Tatsache, "Schüler von"* zu sein, als ein bloßes Marketinginstrument, das alle anderen Muster einer kritischen Bestandsaufnahme wie von selbst außer Kraft setzt. Warum eigentlich? Insgesamt lässt sich beobachten, dass die Strukturen von Identifikation und Protektion in den Hochschulklassen eine nicht unerhebliche Rolle spielen.

Mit welchen Komponisten haben Sie sich während Ihres Studiums beschäftigt?
Das war ganz unterschiedlich, zumeist aber mit Komponisten, die mir bis dahin eher fern gestanden haben, die aber gerade dadurch ein wichtiges Korrektiv von außen gebildet haben.

MARKT

Wie beurteilen Sie die Stellung Neuer Musik? Welche Perspektiven hat Neue Musik?
Neue Musik ist (leider) noch immer eine Randerscheinung (dem muss man wohl einfach ins Auge sehen), vermutlich ist sie aber gerade deshalb unverzichtbarer denn je. In einer Zeit, in der die Manipulierbarkeit von Menschen durch politische Instrumentalisierung und Konsumverhalten zunehmend komplexer wird, ist es umso wichtiger, kritisch denken zu können, sich aber auch mit den Dingen, für die man sich dezidiert entschieden hat, konstruktiv in Beziehung zu setzen. Wir brauchen die Neue Musik viel dringender, als dies den meisten Verantwortlichen der Kulturpolitik wohl bewusst ist.

Unterliegt Ihrer Meinung nach Neue Musik heutzutage auch den Gesetzen des sogenannten Marktes?
Selbstverständlich; sie bringt dabei ja auch ihre eigenen Markt-Mechanismen hervor. Insgesamt lässt sich beobachten, dass auch Neue Musik keineswegs vor den üblichen Übernahme-Mustern gefeit ist, die sie auf anderer Ebene ja vehement bekämpft. Fangen wir also JETZT damit an, unsere eigenen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Verhaltensmuster zu überprüfen.

Viele Komponisten behaupten, sie komponieren nicht für ein Publikum - wie sieht das bei Ihnen aus?
Natürlich hat man - bewusst oder unbewusst - immer auch das Publikum einer bestimmten Aufführung vor Augen. Ein Stück zu schreiben, das sich für ein Gegenüber als sinnlos oder überflüssig erweist, macht mir jedenfalls keinen Spaß. Der Unterschied besteht wohl darin, wie weit das Bewusstsein für das Gegenüber in den Kompositionsprozess eingreift. Hier gibt es - von Komponist zu Komponist - sicherlich Unterschiede. Oft geht es mir sogar umgekehrt: Ich freue mich, wenn ich weiß, dass ein Stück auf ein ganz bestimmtes Publikum (z.B. Ensemble Modern) trifft.

Welche Rolle spielen heute die Verlage bzw. die Phonoindustrie für die Neue Musik?
Aus den eigenen Erfahrungen als Verlagskomponistin würde ich sagen, dass es sehr hilfreich ist, ein gutes Haus im Rücken zu haben. Die Verlage sind unser Sprachrohr, durch sie entstehen Aufträge und Aufführungen, sie vertreten unsere Interessen. Umgekehrt lässt sich beobachten, dass der Einfluss einzelner Verlage, insbesondere dort, wo sich Aufgaben einzelner Personen mit anderen Institutionen überschneiden, mitunter recht weit reicht. (Bisweilen gibt es ja Veranstaltungen, die mehr oder weniger ganz in der Hand eines einzelnen Verlages sind). Die Phonoindustrie spielt dabei, so mein Eindruck, eine eher geringe Rolle. Wichtig und hilfreich ist hier jedoch die CD-Reihe von WERGO/des Deutschen Musikrats, die sich auch explizit als Förderprojekt für junge Komponisten versteht. Es ist dies eine sehr gelungene Form der Unterstützung, die uns hoffentlich auch über die Finanzkrise des Deutschen Musikrats hinaus erhalten bleiben wird.

PERSPEKTIVEN

Welches sind Ihre persönlichen Perspektiven/Projekte für die Zukunft?
Neben den derzeit anstehenden Aufträgen für 2003 (Ensemble Modern, Staatsoper München, Dresdener Tage der zeitgenössischen Musik) interessiert mich - nach bislang eher kammermusikalischer Arbeit - insbesondere das Orchester oder eine andere, größere Instrumentalformation. Daneben übt die Auseinandersetzung mit Stimme(n) von jeher einen nachhaltigen Reiz auf mich aus. Mittelfristig würde ich gerne wieder eine Oper oder ein Stück Musiktheater schreiben, wobei es schwer ist, einen geeigneten szenischen Entwurf zu finden. Daneben macht es mir großen Spaß zu unterrichten, was ich als sehr lustvollen Bestandteil meines Lebens empfinde. Insgesamt habe ich das Bedürfnis, ein glücklicher Mensch zu sein.

Bitte beschreiben Sie Ihr Werk, das im Auftrag der Stadt Frankfurt und des Ensemble Modern entstand und Ihre Überlegungen in diesem Zusammenhang.
Living gardens beschäftigt sich mit verschiedenen Graden der Dissoziation und den Beziehungen, die das so Aufgespaltene über verschiedene Koordinaten hinweg miteinander eingeht. Gleichzeitig beruht das Stück auf mehreren, dem entgegengesetzten Prozessen der Amalgamierung, in denen heterogene Materialien miteinander verschmolzen werden und sich wie in einem chemischen Prozess von selbst neu in Gang setzen. In seiner Großform ergibt sich das Stück aus der Überlagerung mehrerer Beziehungsflächen, die sich zu einer übergreifenden Wellenbewegung zusammenschließen. Das einzelne Detail behält dabei oft seine eigene, nach innen auswachsende Dynamik.