Ungehörte Arten von Musik entdecken

Interview mit György Ligeti

Gegen Einheitsdenken, Auftragskrankheit und Kommerz
György Ligeti im Gespräch mit Roland Diry und Susanne Tegebauer

Ensemble Modern: Auf dem Programm der Ensemble-Modern-Orchestra-Tournee im März 2003 stehen zwei Werke von Ihnen: "Melodien" und das "Doppelkonzert". Im Vorwort zu "Melodien" erklären Sie, dass es drei dynamische Ebenen gibt. Dabei steht die Dynamik proportional zur Figuration oder Bewegtheit in den Instrumenten...


György Ligeti: Genau. Es gibt gehaltene Töne, meistens im hohen Register, das sind immer andere Instrumente. Das geht von einem Streicher zu einem Bläser usw. Die habe ich mir so vorgestellt, dass sie ganz, ganz leise seien, da sie nur so eine Art von Abdeckungsfolie ergeben. Das Stück ist doch sehr transparent. Die expressiven Melodien mittendrin sollen gut hörbar sein. Das ist die lauteste Ebene. Und es gibt die schnellen Figurationen, die auch leise sein müssen, da sie etwas motorisch-mechanisches haben. Ich wollte die Differenzierung der drei dominierenden Lautstärkegrade deswegen, damit alles total plastisch wird: Melodien im Vordergrund, die Figurationen in der Mitte und die langen Töne ganz im Hintergrund. Wenn man's so spielt, dann spielt man's richtig.

Wir werden uns bemühen. Wir haben erstmals drei Konzerte im Programm. Nun gibt es in Ihren Stücken die Tendenz, dass einzelne Instrumente oder Instrumentengruppen solistisch behandelt werden wie z.B. auch in "Melodien". Auf der anderen Seite gibt es beim Doppelkonzert keine Geigen, dafür u.a. je drei Flöten und Oboen, in welchen die Soloinstrumente immer wieder aufgehen. Wodurch zeichnet sich für Sie das Prinzip des Konzertierens aus?
Ich bin eben abgekommen von der barocken Solo-Tutti-Tradition, aber auch vom klassischen Konzert mit Sonatenform und Rondoform. Da diese Formen eng verbunden sind mit der tonalen Harmonik, funktionieren sie nicht mehr. Deshalb habe ich kein allgemeines Prinzip, sondern in jedem Augenblick eine andere Konfiguration der Balance zwischen Solist und Orchester.

Sind denn noch traditionelle konzertante Prinzipien in ihren Stücken vorhanden?


Ja, insofern, als die Soloinstrumente im Doppelkonzert, Flöte und Oboe, hochvirtuose Aufgaben haben und sie dominieren auch. Aber die Solo-Tutti-Einteilung gibt es nicht mehr.

Beim Doppelkonzert gibt es noch eine Besonderheit: Hier entstehen bestimmte Mikrotöne durch die besondere Unterteilung der Oktave bzw. Intonationsabweichungen.


Ja, die gebe ich in der Flöte mit Griffen an und in der Oboe nur mit Pfeilen, da hier die Ausführung der Intonationsabweichungen leichter auszuführen sind, etwa durch den Druck der Lippen. Das ganze Stück ist in Mikrointervallen. Die Oktave ist eben nicht temperiert, die Oktaven werden auch nicht in gleiche Intervalle unterteilt, sondern es gibt ein diatonisches Gerüst - manchmal chromatisch, meistens diatonisch - und dann gibt es immer diese Intonationsabweichungen, die ich notiere. Aber diese Abweichungen sind immer unterschiedlich, nicht einheitlich. Ich bin sowieso gegen Einheitsdenken.

Einige Ihrer Stücke gibt es in einer Fassung für Soloinstrumente und Orchester oder Ensemble. Wo liegt der Unterschied im Ergebnis, das im Saal zu hören ist, für das Publikum und für Sie als Schöpfer?

Welche Faszination haben die verschiedenen Versionen für Sie?
Auf die Orchesterversionen habe ich verzichtet! Und ich bleibe dabei, dass alle diese Stücke mit Solistenensemble gespielt werden sollen, da die Balance mit Orchester nicht so gut ist.

Ich dachte, die Orchesterversionen werden immer noch aufgeführt...
Ich hoffe nicht! Ich habe Schott gebeten, dass überall die Solo- Versionen gespielt werden. Ein Beispiel ist "Ramifications" für Streichorchester, das mit 12 Solisten oder mit Orchester gespielt werden kann. Das Niveau und der Klang der Musik ist mit Solisten sehr viel besser. Eine Ausnahme bildet das Klavierkonzert, wo es gut ist, wenn mehrere Streicher spielen. Denn die Balance zwischen Klavier und Bläsern einerseits und den Streichern andererseits wirkt sich sonst zu Ungunsten letzterer aus. Ich habe auch überall die Titel geändert: z.B. "Clocks and Clouds" ist für 12 Frauensoli - nicht Chor - und einzelne Instrumente. Das Chorische birgt immer die Gefahr der Undeutlichkeit. Das Klangergebnis wird verschmiert. Es gab immer Anfragen für Orchester, aber das ist heute auch eine Frage der Probenzeit, die im allgemeinen stark reduziert wird mit Tendenz gegen Null. Das macht Stücke, die nicht von Solisten gespielt werden, sehr gefährlich.

Mit der entsprechenden Probenzeit wäre es also auch möglich, die Orchesterversion zu spielen.


Ja, aber das ist sinnlos, da das vielleicht einmal geht, doch dann kommt die übliche Probenzeitbegrenzung - auch wegen des Geldes. "Aventures/Nouvelles Aventures" etwa benötigt so viel Detailarbeit und wurde trotzdem bei einer großen Plattenfirma ohne eine einzige Probe aufgenommen. Das hat mich tief erschüttert. Haben Sie das bei Ihrem Ensemble auch bemerkt, dass die Probenzeiten immer magerer werden?

Nein. An diesem Punkt sind wir sehr rigide. Ich kann mich erinnern, wie viele Proben wir machten, als wir zum ersten Mal Ihr Klavierkonzert probten. Das waren viele, damit das Ergebnis wirklich gut werden konnte.


Das ist eine Kategorie, die inzwischen fast nicht mehr existiert. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch bei Orchesterkonzerten gerade mal eine Probe angesetzt wird. Noch ein Beispiel: Bartóks "Musik für Saiteninstrumente" ist ziemlich schwer und der langsame 3. Satz beginnt mit den Bratschen und zwar unisono. Das wird nie sauber gespielt. Man muss halt ein bisschen proben. Ich sehe da eine soziologische Veränderung, dass die Dirigenten und auch berühmte Solisten durch Druck des Kommerzes und direkten Druck ihrer Agenten in ein Minimum von Arbeit und ein Maximum von Konzerten oder Plattenaufnahmen, die materiell interessanter sind, gedrängt werden. Ich sehe eine große Gefahr durch die materielle Beschränkung und den kommerziellen Druck.

Eines Ihrer Lieblingskammermusikwerke ist das Oktett von Franz Schubert. Interessiert Sie diese Besetzung noch in Hinblick auf mögliche zukünftige Formen und Klangobjekte?


Ja, das würde ich nach wie vor sehr gerne noch machen. Aber ich nehme nicht mehr Aufträge an als ich wirklich schaffen kann. Mein experimentellstes Stück ist das Konzert für Horn und kleines Orchester, das "Hamburgische Konzert". Und es ist noch immer nicht fertig. Ich bin dabei, einen 8. Satz zu schreiben. Denn die Form erschien mir ungenügend. Ich werde immer bei einem Stück bleiben, so lange ich nicht spüre, dass es fertig ist.

Vor vielen Jahren nannten Sie mir zwei junge Komponisten, die Sie sehr geschätzt haben. Wenn Sie auf Ihre lange Erfahrungszeit zurückblicken: Welche Entwicklungen waren überraschend, vorhersehbar oder besonders positiv? Welche Perspektive gibt es für die nächsten Jahre?


Also, da sehe ich ziemlich schwarz. Es gibt diesen Druck, alles unter dem Gesichtspunkt des Kommerzes zu tun. Die Dirigenten wollen berühmt werden und nehmen leider teil an diesem Karussell. Das sind die berühmten Leute: ein Tag in Los Angeles, den anderen Tag in London. Und die Komponisten sind extrem abhängig von den praktischen Probemöglichkeiten. Noch eine Kleinigkeit:Wenn die einzelnen Mitglieder eines Orchesters - egal , ob klein oder groß - sich die Mühe machen, die Stimmen mit nach Hause zu nehmen und anzuschauen, dann ist das etwas ganz anderes als wenn sie in der Probe vom Blatt spielen und so wahnsinnig viel Zeit verloren geht. Ich sehe das ganz pragmatisch und unidealistisch. Ich kämpfe für Qualität und Qualität braucht Übung.

So etwas ähnliches haben Sie vor 10 Jahren auch schon gesagt: Die Komponisten arbeiten professionell, dann müssen die Dirigenten und Orchester es auch tun. Und die jungen Komponisten?


Darüber kann ich nichts sagen, da ich in den letzten Jahren sehr wenig Kontakt mit jüngeren Komponisten hatte. Für mich waren zwei Komponisten wichtig, die einen sehr großen Eindruck bei mir hinterlassen haben und für die ich meine Hand ins Feuer lege: Einmal Conlon Nancarrow - also kein junger Komponist. Als Gesamtphänomen ist er für mich einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Der andere ist Claude Vivier, der eine sehr originelle melodische und harmonische Phantasie hat. Er hat einen sehr sonderbaren Geschmack, manchmal ist er sehr kitschig - wie auch Messiaen. Ein sehr süßer Kitsch. Aber er hat einige Meisterwerke wie z.B. "Lonely Child" geschrieben. Eine andere wesentliche Musik für mich ist die von Hans Abrahamsen aus Kopenhagen. Es gibt mehrere talentierte Leute, wie z.B. Manfred Stahnke, der sehr experimentierfreudig ist. Ach, aber wenn ich ganz streng bleiben muss, komme ich in Schwierigkeiten. Ich glaube, ich sage keine Namen mehr. Ich bin sehr pessimistisch. Das bedeutet nicht, dass das, was ich mache, besser sei. Es bedeutet, dass die ganze soziologische Situation der Neuen Musik unter dem Druck in Richtung Rock und Pop, was kommerziell akzeptiert ist, leidet. Dann gibt es viele Randbereiche. Leute, die populär sein wollen.Was meinen Sie dazu?

Es scheint so zu sein, dass, wenn die Angebote sehr vielfältig und komplex werden, die künstlerische Qualität darunter Schaden leiden könnte.


Nicht könnte, sondern Schaden leidet. Wenn jemand alle Aufträge annimmt, dann können diese Aufträge keine Qualität liefern. Diese Auftragskrankheit ist mir sehr fremd. Mein Traum ist, dass jedes neue Stück eine neue Art von Musik sei. Also dass man bisher ungehörte Arten von Musik entdeckt.

Herr Ligeti, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Ensemble Modern