Fragebogen Sebastian Stier

PERSÖNLICHES/WERDEGANG

Stellen Sie sich bitte kurz vor. Was ist für Sie wichtig - auch außermusikalisch?
Mein Name ist Sebastian Stier, geboren wurde ich am 23. August 1970 in Köthen/Anhalt. Ungefähr seit meinem 14. Lebensjahr komponiere ich, nachdem ich in meinem Elternhaus viel mit Musik in Berührung gekommen war und Blockflöte und Cello spielte; Klavier kam später dazu. Mein Drang zum Komponieren wurde dann weiter in der Kinderkomponistenklasse des damaligen Bezirkes Halle/Saale ausgebildet, einer ehemaligen Einrichtung in der DDR. Dort hatte ich 4 Jahre lang sehr intensiven Kompositionsunterricht und bekam erste Versuche von mir in Konzerten zu hören. Mein Lehrer in dieser Zeit war Prof. Günther Eisenhardt aus Dessau.
1991 begann ich mein Kompositionsstudium in Berlin bei Paul-Heinz Dittrich. Derzeit schließe ich gerade ein Zusatzstudium bei Hanspeter Kyburz ab. Neben der Musik habe ich zu allen anderen Kunstformen mehr oder minder starke Beziehungen. Darüber hinaus ist mir vor allem meine Familie wichtig (ich habe zwei kleine Kinder), aber auch Freundschaften und vieles andere, was ich hier nicht alles aufzählen kann und möchte.

Kann man heute vom Komponistsein leben?
Ich versuche es - noch fühle ich mich ganz lebendig.

Wie komponieren Sie (Herangehensweise, Dauer)?
Ganz am Anfang habe ich meist mehrere verschiedene Klänge, Gesten und Strukturen im Kopf. Diese versuche ich zu skizzieren, zu analysieren, auf ihre Substanz, Gemeinsamkeiten und Unterschiede abzuklopfen. Dann entsteht ganz langsam ein Konzept für deren Anordnung und Veränderung während der Komposition, eine Art Dramaturgie.
Erst jetzt beginnt die eigentliche Komposition, während der immer wieder Zweifel aus dem Weg geräumt werden müssen und überhaupt spontane und intuitive Dinge passieren, die nicht vorherzusehen sind und die mich oft ein Konzept über den Haufen werfen lassen, oder zumindest Anlass für dessen Revision geben. Das ist dann oft sehr zeitaufwendig und mühsam.

Inwieweit bedienen Sie traditionelle "Gattungen"?
Eigentlich nur, indem ich meist für traditionelles Instrumentarium schreibe.

Wieviele Kompositionsaufträge erhalten Sie und wie kommen diese zustande? Warten Sie auf Aufträge und richten sich nach den Anforderungen oder reichen Sie fertige Kompositionen ein?
In den letzten 4-5 Jahren hatte ich 1-2 Aufträge pro Jahr, die oft durch Beziehungen und Empfehlungen eher zufällig zustande kamen. Um einen Auftrag beworben habe ich mich nie, hatte aber das Glück, sehr früh mit dem Ensemble UnitedBerlin in Kontakt zu kommen, welches mich sehr gefördert und viele meiner Stücke gespielt hat, so dass mein Name zumindest in Berlin etwas bekannt wurde.

Wie beurteilen Sie die Lage von Komponisten heute im Vergleich zu vor 50 oder 150 Jahren?
Kann ich nicht beurteilen.

Welche Musik hören Sie privat?
Zu Hause höre ich kaum Musik (Ich bin froh, wenn ich in der lauten und schrillen Großstadt Momente der Ruhe und Stille finde.) Meine Freundin mag französische Chansons, die sie manchmal hört - und ich mit. Ansonsten bin ich für fast alles offen. Was ich nicht mag, ist die deutsche Unterhaltungsmusik und auch Techno, Metal, Boy-Groups und andere Teenie-Idole gehen mir ziemlich schnell auf den Wecker. (Nicht zu reden von Kaufhaus- und Klobeschallung!)

AUSBILDUNG

Was ist wichtig für die Lehrzeit von Komponisten?
Ein Lehrer, der einem nicht seine eigene Ästhetik aufdrücken möchte, sondern hilft, seine Eigenheiten zu entdecken und zu entwickeln; der einem viel verschiedene Musik nahebringt, aber auch Orientierung im Dschungel der Vielfalt bietet.

Müssen Sie sich als Komponist weiterbilden und wenn ja, wie?
Ich denke, ein Komponist muss auf Lebenszeit Lernender bleiben, schon weil er durch sich selbst und andere immer wieder mit Neuem, Unbekanntem, Fremdem und auch Unverständlichem konfrontiert wird, mit dem er sich auseinandersetzen muss.

Wie beurteilen Sie die Ausbildung an den Hochschulen?
Nach meinen Erfahrungen zu wenig praxisorientiert und zu wenig systematisch.

Mit welchen Komponisten haben Sie sich während Ihres Studiums beschäftigt?
Neben den Lehrern habe ich mich mit vielen anderen Komponisten mehr oder weniger intensiv beschäftigt. Stellvertretend einige Namen: Varèse, Nono, B.A. Zimmermann, Xenakis, Stockhausen, Lachenmann. (Nicht zu vergessen die ganzen klassischen Komponisten und die der klass. Moderne.)

MARKT

Wie beurteilen Sie die Stellung Neuer Musik? Welche Perspektiven hat die Neue Musik?
Die gesellschaftliche Akzeptanz Neuer Musik ist sicherlich gering. Dabei gibt es meines Erachtens nach (zumindest hier in Berlin) genug Konzerte mit Neuer Musik, nur sind sie oft nicht gut besucht. Nur selten "verirrt" sich ein Werk neueren Datums in ein Abonnementkonzert und stiftet dort meist Verunsicherung und Ärger. Die Festival- und Uraufführungskultur Neuer Musik dagegen finde ich problematisch, da sie der Verbreitung von Neuer Musik wohl eher entgegenwirkt und das Entstehen elitärer Kreise fördert. Insofern sehen die Perspektiven nicht gerade rosig aus, wenn man davon absieht, dass es auch immer wieder Gegenbeispiele gibt. Außerdem hat die Musik selbst wohl immer genügend Perspektiven, ganz egal, ob sie von einem breiten Publikum wahrgenommen wird, oder nicht.

Unterliegt Ihrer Meinung nach Neue Musik heutzutage auch den Gesetzen des sogenannten Markts?
Sicherlich gibt es für die Neue Musik einen, zum großen Teil subventionierten Markt, auf dem man künstlerischen Erfolg in wirtschaftlichen umwandeln kann. Insoweit greifen die Gesetze des Marktes schon: wer viel gespielt wird, verdient auch viel. Neue Musik jedoch ausschließlich nach ihrem wirtschaftlichen Erfolg zu bewerten, halte ich für gefährlich, sagt dieser doch nichts oder nur wenig über die Qualität der Musik aus.

Viele Komponisten behaupten, sie komponieren nicht für ein Publikum - wie sieht das bei Ihnen aus?
Natürlich möchte ich, daß meine Musik gehört wird. Ich schreibe aber nicht für das Publikum, welches die Seele im Konzert baumeln lassen will, oder nach Feierabend noch eine CD zur Entspannung einlegt. Ich schreibe für ein Publikum, welches Hören als einen aktiven Vorgang betrachtet und bereit ist, sich durch Musik verunsichern oder gar verändern zu lassen, welches aber auch Kritik üben kann. Vom Publikum angehimmelt zu werden ist mir genauso wenig wichtig, wie gefällige Musik zu komponieren.

Welche Rolle spielen heute die Verlage bzw. die Phonoindustrie für die Neue Musik?
Ich kann das nur schwer einschätzen, finde es aber auf jeden Fall sinnvoller Konzerte zu veranstalten, als CD's zu produzieren, die sowieso niemand kauft (von hören will ich gar nicht sprechen). Im übrigen suche ich einen Verlag.

PERSPEKTIVEN

Welches sind Ihre persönlichen Perspektiven/Projekte für die Zukunft?
Momentan läuft es ganz gut bei mir, meine ganze Kraft stecke ich in die Komposition für das Ensemble Modern, so dass ich nicht viel Zeit habe, über die Zukunft nachzudenken. Bis jetzt war es oft so, dass ein Projekt ein anderes nach sich zog. Auch wenn die Aufträge nicht Schlange stehen, Langeweile werde ich nicht bekommen.

AUFTRAGSKOMPOSITION

Bitte beschreiben Sie Ihr Werk, das im Auftrag der Stadt Frankfurt und des Ensemble Modern entstand und Ihre Überlegungen in diesem Zusammenhang.
Da das Stück noch nicht fertig ist, kann ich es auch nicht beschreiben. Nur soviel: Das Stück soll Double heißen und ist für großes Ensemble mit zwei Klavieren (insgesamt sind es 20 Musiker). Als Double wurden in der Musik des Barock bekanntermaßen verzierte und melodisch ausgeschmückte Wiederholungen von Sätzen einer Suite bezeichnet. Dabei war entscheidend, dass die Form des Stückes und das harmonische Gerüst beibehalten wurde. In meiner Komposition geht es eher um einen umgekehrten Vorgang, um einen Prozess der Reduktion und Entschlackung einer überladenen Anfangssituation.
Eine zweite Bedeutung des Begriffs wird sicherlich während des Stückes an Bedeutung gewinnen: die des Doubles im Film. So kann ich mir vorstellen, dass das Ensemble irgendwann den Gestus der beiden Klaviere aufnimmt und die beiden Klaviere gewissermaßen ersetzt und vertritt. Doch soweit bin ich noch nicht.