Fragebogen Enno Poppe

PERSÖNLICHES/WERDEGANG

Stellen Sie sich bitte kurz vor. Was ist für Sie wichtig - auch außermusikalisch?
Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich kämpfe nicht. In der Kunst gibt es keine Konkurrenz. Ich bin Mitteleuropäer und kann mir mich nicht traditionslos vorstellen. Spontaneität ist mir suspekt.

Kann man heute vom Komponistsein leben?
Wer ist "man"? Manche können es. Die Auftragshonorare sind oft zu niedrig. Dafür ist die Möglichkeit, als Nachwuchskomponist Stipendien oder Preise zu bekommen, nicht schlecht. Wenn man sich darum kümmert.

Wie komponieren Sie (Herangehensweise, Dauer)?
Ich kann dies auf die Schnelle nicht beschreiben. Grundsätzlich gibt es immer einen kreativen Konflikt zwischen musikalischen Details ("Einfällen") und einer formalen Planung ("Dramaturgie"), zwischen dem Entwerfen von Systematiken und dem signifikanten Verstoßen gegen die eigenen Regeln. Der Zeitaufwand ist meist immens. Viele Ideen sind vom Anlass und der Besetzung unabhängig. Daher können Vorarbeiten unabhängig von Aufträgen gemacht werden.

Inwieweit bedienen Sie traditionelle "Gattungen"?
Das Ensemblestück ist die Sinfonie des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Ausgehend von Schönbergs op. 9 hat sich eine emphatische Gattungstradition entwickelt - nicht zuletzt durch die immer besser werdenden Spezialensembles -, an der kaum ein Komponist vorbeischauen kann und will.

Wieviele Kompositionsaufträge erhalten Sie und wie kommen diese zustande? Warten Sie auf Aufträge und richten sich nach den Anforderungen oder reichen Sie fertige Kompositionen ein?
Etwa zwei Stücke pro Jahr. Über das Zustandekommen habe ich, ehrlich gesagt, keine Ahnung.

Wie beurteilen Sie die Lage von Komponisten heute im Vergleich zu vor 50 oder 150 Jahren?
Die Aufführungssituation hat sich unvergleichlich gebessert: die Seriosität der Musiker und die heutige Selbstverständlichkeit, Zeichen einer Interpretationstradition, ist mit früheren Orchestermusikern überhaupt nicht zu vergleichen. Selbst Stockhausen-Platten aus den Siebzigern klingen noch wie Kurkapellen.
Zudem: vor fünfzig Jahren litten Komponisten an einem Sendungsbewusstsein-Syndrom. Davon sind wir heute befreit.

Welche Musik hören Sie privat?
Manchmal alles, manchmal nichts.

AUSBILDUNG

Was ist wichtig für die Lehrzeit von Komponisten?
Zeit. Geduld.

Müssen Sie sich als Komponist weiterbilden und wenn ja, wie?
Klänge hören! Man vergisst es immer wieder, wie eine Triangel klingt, wenn man nicht ab und zu daneben steht.

Wie beurteilen Sie die Ausbildung an den Hochschulen?
Tendenz: die Kompositionsstudenten können ihre - bisweilen unbeholfenen - Ideen und Stücke nicht realisieren (proben und hören), weil die Hochschulen die entsprechenden Strukturen nicht oder ungenügend bereitstellen und die Ausbildung der Instrumentalisten das nicht vorsieht. Dies fördert - verbunden mit den meist guten Einzelunterrichten - große Einsamkeit und bisweilen eine ganz fatale eigenbrötlerische Hybris. Der kommunikative Aspekt wird unterbewertet.

Mit welchen Komponisten haben Sie sich während Ihres Studiums beschäftigt?
Ich bin seit meiner Kindheit bestrebt, mir ein umfassendes Wissen über alle Musik aller Jahrhunderte und Kontinente anzueignen. Die Vergeblichkeit dieses Ansatzes wird durch den Reichtum an Erlebnissen mehr als aufgewogen.

MARKT

Wie beurteilen Sie die Stellung Neuer Musik? Welche Perspektiven hat die Neue Musik?
Die neue Musik wird gehört, geliebt und gebraucht. Den Antrieb der Neugier und des Überdrusses am Immergleichen wird es immer geben. Dabei war die Idee, dass eine Kultur für alle da sein müsse, zu allen Zeiten Unfug. Die neue Musik hat einen Platz dort, wo auch vieles andere einen Platz hat.

Unterliegt Ihrer Meinung nach Neue Musik heutzutage auch den Gesetzen des sogenannten Markts?
Ja, sicher. Bei Markt fällt mir ein, daß jeder Bauer ein Vielfaches von Subventionen erhält. Die öffentlichen Gelder sind und bleiben notwendig, aber verzerren die sogenannten Gesetze des sogenannten Marktes nur unwesentlich.

Viele Komponisten behaupten, sie komponieren nicht für ein Publikum - wie sieht das bei Ihnen aus?
Ich würde gern Namen wissen! Was soll denn das heißen?
Beispiel: der Schönberg/Webernsche Ausdruck "Fasslichkeit" ist doch ganz eindeutig eine Wahrnehmungskategorie, auch wenn Weberns Stücke nicht gespielt wurden.

Welche Rolle spielen heute die Verlage bzw. die Phonoindustrie für die Neue Musik?
Die Verlage scheinen keine gute Rolle zu spielen, wenn ich bedenke, daß ich die wenigsten Partituren, die ich gern besäße, überhaupt kaufen kann (von den horrenden Preisen einmal abgesehen), weil vieles nur noch als Leihmaterial erscheint. Den musikalischen Analphabetismus können die Verlage nicht stoppen, dennoch werde ich das Gefühl, da werde unprofitabel und vorgestrig gearbeitet, nicht los.
Die Phonoindustrie hingegen leistet hingegen insgesamt gute Arbeit, wenn auch vieles schmerzlich fehlt.

PERSPEKTIVEN

Welches sind Ihre persönlichen Perspektiven/Projekte für die Zukunft?
Projekte (Auswahl):
"Scherben" für Ensemble (Wittener Tage 2001, Ensemble Modern)
"Äste" für grosses Ensemble (Musikmonat Basel, Klangforum Wien)
Werk für Orchester (DSO Berlin)
Perspektiven: weiß ich nicht. Auf jeden Fall: mein bestes geben.

AUFTRAGSKOMPOSITION

Bitte beschreiben Sie Ihr Werk, das im Auftrag der Stadt Frankfurt und des Ensemble Modern entstand und Ihre Überlegungen in diesem Zusammenhang.
Ausschnitt aus dem Programmhefttext:
"[...] Der identifikatorische Umgang mit dem eigenen technischen Ansatz führt in die Leere; und mangelnder Abstand von der eigenen Bewegtheit führt zu dem, was Schönberg "Wehleidigkeit" nennt. Dies darf nicht als Gefühlskälte mißverstanden werden, denn die Selbstbeobachtung soll nicht Kontrolle, sondern Vergrößerung der eigenen Welt bewirken.
Die Vieldeutigkeit von "Knochen" beginnt auf der Ebene der Großform. Das Stück kann sich zwischen Ein- und Dreisätzigkeit nicht recht entscheiden, die Sätze selbst sind aus vielen Einzelsätzen zusammengesetzt. Das Verhältnis der Formteile zueinander, im ersten Satz etwa, kehrt aber im Bereich der Partikel und Motive ebenso wieder wie auf der Ebene von Motivgruppen und Ketten. Das ständige Bilden von Analogien in verschiedenen formalen Größenordnungen gestattet mir, mein Bedürfnis nach Farbigkeit und Kohärenz gleichermaßen zu befriedigen. Dabei sind die formalen Niveaus keinesfalls identisch und nicht in Form eines Masterplanes strukturiert. Es geht um Verknüpfungen, offene und versteckte Bezüge, um für den Verlauf des Stückes Relevantes. Was aber relevant ist, lässt sich mit Worten weniger beschreiben als mit Noten.
Ich möchte erwähnen, dass ich in "Knochen" erstmals, jedoch nicht durchgängig eine Harmonik verwende, die auf Summations- und Differenztönen aufgebaut ist. Diese jedem Musiker vertrauten, meist als störendes Brummen bei hohen Klängen empfundenen Töne sind eine akustische Täuschung des Gehirns, also nicht physikalisch nachweisbar. Da sie stets die spektrale Verwandtschaft zwischen Tönen herausfiltern, sind die entstehenden Klänge zugleich konsonant und hochgradig aufgerauht, ähnlich wie beim Verfahren der Ringmodulation.
Knochen sind Bausteine. Sie bedeuten nicht den Tod, aber fallen ohne Fleisch auseinander."