Wir brauchen mutige und kämpferische Persönlichkeiten!

Interview mit Pierre Boulez

Pierre Boulez, Komponist, Dirigent und französische Musikinstanz, leitet die diesjährige Herbsttournee des Ensemble Modern Orchestra. Eva Böcker, Roland Diry und Susanne Tegebauer sprachen mit ihm über seine "Setzlinge", Möglichkeiten und Problematik des Orchesters im 20. Jahrhundert, Bürokratie und Persönlichkeiten, die die Neue Musik braucht.

Wie ist eigentlich das Programm der Ensemble Modern Orchestra Tournee mit Ihnen zustande gekommen?


Oh, das hat angefangen, als Karsten Witt noch Geschäftsführer des Ensemble Modern war. Es gab soviel Diskussionen! Wir hatten damals die Idee, zu zeigen, dass das Orchester unserer Zeit nicht genormt ist, was die vielen Streicher und allgemein die Disponierung auf der Bühne angeht, dass es jedesmal ein anderes Orchester zu leiten gibt. Dies erwies sich dann jedoch als nicht praktikabel, sondern ist im Gegenteil richtig lästig geworden, weil man zwischen jedem Stück eigentlich 20 Minuten Umbaupause benötigte. So wurde allmählich das Originalziel vollkommen transformiert. Das passiert oft mit einem Programm. Man denkt, man konzipiert, und trotzdem ist es dann manchmal aus verschiedenen Gründen zu kompliziert, um realisiert zu werden, so dass sich das Endprodukt sich ziemlich vom Anfangsgedanken unterscheidet. Von der Originalidee ist Schönberg op. 22 geblieben. Ich wollte dieses Stück, da es sehr selten gespielt wird. Es gibt sechs Klarinetten, die von der normalen B-Klarinette bis zur Es-Klarinette, ja, bis zur Kontrabassklarinette gehen, was allein schon ein Problem darstellt, besonders mit Orchestern, wo es nicht soviel Musiker gibt.

Ist Schönberg damit auch ein bisschen das zentrale Stück?


Zentral nicht, aber eine Referenz. Das Stück ist in der Epoche der Jakobsleiter entstanden, die sehr interessant ist, da Schönberg sich damals zwischen zwei Welten bewegte: Er hatte bereits seit op. 10 atonale Werke geschrieben und befand sich schon in der Nähe der Zwölftontechnik, war jedoch noch nicht angekommen. Bei aller Disziplin war er hier noch frei. Die Instrumentierung und Klangkombinationen sind sehr interessant, und man fragt sich: warum? Es gibt keine Instrumente, die wirklich ungewöhnlich wären, aber bereits am Anfang des ersten Liedes funktionieren die sechs Klarinetten wie ein Fächer, der sich aufspreizt und wieder einklappt: unisono, Akkorde, unisono, Akkorde. So ergibt sich eine einzigartige Farbe. Das ist Kammermusik projiziert auf Orchester!

Und jedes Lied ist anders in der Farbe.


Ja, wie haben hier das weiter entwickelte Prinzip von Pierrot Lunaire. Es gibt Klangkombinationen z.B. mit zwei Englisch Hörnern, Bassklarinette und Kontrabassklarinette, die sehr selten zu hören sind, weil die meisten Komponisten viel zu konventionell mit dem Orchester arbeiten: Englisch Horn gibt es immer nur einmal, sehr selten zwei Mal wie bei Berlioz. Das ist so ungewöhnlich, dass man allgemein denkt: ach, im Orchester kommt nur ein Englisch Horn und nur eine Bassklarinette vor. Schönberg hat gezeigt, dass man mit ganz normalen, "braven" Instrumenten einen ganz außergewöhnlichen Klang erzielen kann. Stravinsky hat z.B. in der Psalmensymphonie ähnliche Mittel benutzt. Es gab also zu dieser Zeit eine Tendenz in diese Richtung. Aber heutzutage sind die Gewohnheiten und der Standard vom Orchester so stark, dass sehr wenig Komponisten wirklich Extrakombinationen probieren.

Und wie ist das bei den Earth Dances, die Birtwistle Ihnen gewidmet hat?


Für Earth Dances haben wir uns entschieden, da wir hier ebenfalls ein ungewöhnliches Orchester haben. Außerdem wird Birtwistle nicht sehr oft in Deutschland aufgeführt, eigentlich auf dem gesamten "Kontinent" nicht. Obwohl ich sehr regelmäßig seine Stücke gespielt und sogar in Auftrag gegeben habe. Das Programm stellt eine Mischung der Kulturen dar, so wie ich es sehr gerne habe. Birtwistle ist Engländer, Kyburz ist Schweizer, und da ist der Großvater Schönberg. Natürlich kann man in einem Programm nicht alle Wünsche erfüllen, ich hätte auch sehr gerne Berio gehabt als Vertreter einer Mittelmeerkultur. Ich bin Franzose, nicht so sehr, aber natürlich doch...

Zuerst stand Ihre Komposition Figures Doubles Prismes auf dem Programm...


Es kam die Frage auf, Figures Doubles Prismes zu spielen. Ich wollte das Stück revidieren, hatte aber keine Zeit dazu. Das habe ich auf nächstes Jahr verschoben. So ist dieses Stück weggefallen und statt dessen Notations ins Programm aufgenommen worden, wo das Orchester ganz normal disponiert ist, bis auf sehr viel Schlagzeug! Hier haben wir ein ähnliches Problem wie bei Schönberg, da es nach dem amerikanischen Maß achtzehn erste Geigen gibt und neun Schlagzeuger, so dass weder jedes Orchester noch alle Bühnen dafür geeignet sind.

Zu Ihrem Stück Notations: Was hat Sie bewegt, es für Orchester zu bearbeiten?


Ah, das war komischerweise, als ich in Bayreuth war, also zwischen 1976 und 1980. Der Ring ist wirklich sehr strapazierend und die ersten Jahre ist man nur mit diesem "Beruf", dem Dirigieren, beschäftigt. Man kann am Tag an nichts anderes denken. Aber im zweiten Jahr, als die ersten beiden Zyklen vorbei waren, hatte ich ein bisschen Zeit, konnte jedoch nicht komponieren, da ich immer noch zu sehr mit dem Ring beschäftigt war. Aber durch Zufall wurden diese ganz kurzen Klavierstücke Notations, die ich 1945 geschrieben hatte, von einem Mitstudenten bei Messiaen wieder entdeckt. Er hat mir Photokopien geschickt, weil sie das Stück wieder spielen wollten. Ich gab meine Zustimmung, und behielt die Kopie. Zur gleichen Zeit las ich, dass man in Ägypten alte Samen gefunden und wieder eingepflanzt hatte, woraus Korn wurde - nach 20 Jahrhunderten! Der Unterschied bei mir war nicht so groß, aber dennoch: Die kleinen Stücke waren Samen, aus denen viel mehr werden konnte. Ich beschloss, sie zu orchestrieren, wobei ich die Erfahrungen aus dem gesamten Repertoire, das ich dirigiert habe, in das Werk einbringen wollte. Das hat nicht sehr viel mit Komponieren zu tun, aber sehr viel mit dem Verhältnis zwischen Orchester und Musik.

Sie sagten einmal, die Proportionen zwischen der Länge eines Stücks und dem Instrumentalapperat müssten stimmen...


Ja, und die Konsequenz war, dass jedes dieser sehr kurzen Stücke, jedes ist vielleicht 30 Sekunden lang, nicht mit einem Riesenorchester möglich ist. Deshalb habe ich wieder an ihnen gearbeitet. Das kam direkt von Wagner. Nicht stilistisch natürlich, aber wenn man die Themen in Rheingold betrachtet, die er hier einführt und die sich erst in Götterdämmerung wirklich entfalten, dann hat man die Quelle und die Entwicklung. Diesen Prozess gibt es auch bei mir: Ich habe einen großen Abstand zu einigen Themen oder Stücken, die ich geschrieben habe, und dann wirft sich für mich die Frage: Was kann ich damit machen? Das ist auch eine gute Übung, da man sehr scharf sein muss, um zuerst diesen Abstand zu reduzieren. Als ich jung war, habe ich sehr viele Ideen gehabt, die aber im Versuch stecken geblieben sind.

Und darum stehen in der Orchesterpartitur vorne die Klavierstücke?


Ja, genau deswegen! Damit man den Unterschied sieht. Das ist dasselbe Material, nur erweitert. Der Titel ist natürlich auch von 1945 und bedeutet einfach, das schnell flüchtig Notierte, so wie es damals war.

Und die Reihenfolge ist die gleiche?


Ja, die Reihenfolge ist nicht bestimmt. Für die fünf Stücke ist der Kontrast zwischen langsam und schnell wichtig, also ein ganz einfaches Konzept, d.h.: I VII IV III II. Notations ist noch nicht abgeschlossen. Wenn weitere Stücke daraus bearbeitet sind, wird es eine andere Reihenfolge geben. Und wenn alle zwölf fertig sind, wird man eine Auswahl treffen können, welche gespielt werden sollen.

Denken Sie, es wäre interessant, einmal beide Versionen von Notations in einem Konzert zu spielen?


Das habe ich gemacht. Allerdings war das kein Konzert, sondern ein Workshop, den ich gemeinsam mit den Musikern vorbereitet habe. Es gab einen Fragekatalog, anhand dessen der Workshop gestaltet wurde. Schließlich habe ich alle Beispiele gegeben, wie die Ideen entwickelt wurden.

Sie nannten das Beispiel mit den Samen: Die können ja nur aufgehen, wenn sie viel Kraft haben. Bearbeitung ist in Ihrem Werk ja sehr häufig, also etwas, das Sie grundsätzlich beschäftigt. Das ist um so interessanter, da, Sie oft in Zusammenhang gebracht werden mit dem Adorno-Zitat: Komponieren ist das Erfinden des Unbekannten. Steht das im Widerspruch zu dieser Technik?


Nein, wenn ich etwas sehe, existiert das schon, aber es ist auch unbekannt. Immer wenn ich fühle, dass ich mit einer Idee nicht fertig bin, gehe ich weiter. Es gibt auch Stücke, an denen ich überhaupt nichts mehr zu tun habe. Aber dann wieder gibt es solche wie Incises für Klavier und Sur Incises, das vielmal länger ist, da die enthaltenen Ideen mir gefallen haben. Dasselbe gilt für Anthèmes für Geige solo. Ich wollte ein Stück für Geige und Elektronik komponieren, also warum nicht das gleiche Material verwenden? Es blüht im neuen Werk noch einmal auf.

Wird aus Domaines vielleicht auch noch etwas anderes?


Ja, ich möchte gerne in zwei Jahren Domaines wieder bearbeiten und zwar nach der Originalidee, die ich damals nicht habe realisieren können. Mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ich habe Domaines bearbeitet und es gibt zwei andere Stücke von Domaines, die schon vergrößert sind: Ich habe angefangen mit Cahier I sowie Cahier II und III, aber das andere wird später kommen, das ist jetzt noch im Kühlschrank.

Sie hatten angesprochen, dass Schönberg die Orchesterlieder komponiert hat, als er darüber nachdachte, das Orchester anders zu strukturieren. Wie ist Ihre Sicht im Moment, wohin geht der Weg des Orchesters?


Das ist schwer zu sagen, weil die Institution Orchester wirklich ein großes Gewicht hat und nicht bereit ist, sich so schnell zu ändern. Gar nicht aus bösem Willen, sondern weil das Gewicht dieser Institution einfach da ist. In Amerika ist es noch viel starrer als hier. Sie haben dort dieses Schema mit vier Proben für ein Konzert: Dienstag eine Probe, Mittwoch zwei und Donnerstag eine. Es gibt auch praktische Gründe, etwa den Umbau betreffend. Man kann nicht nach zehn Minuten Musik 30 Minuten Pause machen. Oder wenn ein Musiker gewöhnt ist, in einer bestimmten Ecke zu spielen und zu hören und er dann woanders inmitten anderer Instrumente spielen soll, braucht er Zeit, um sich zurecht zu finden. Deswegen ist es nicht immer leicht, ein Orchester "umzurühren". Auch die Proben müssen neu organisiert werden, dahingehend, dass man nur ein Stück pro Probe erarbeitet, da man sonst einen großen Umbau einplanen müßte und diese Zeit verliert! Und Extraproben kosten irrsinnig viel Geld. Das ist die Gewerkschaft, das sind Verträge. Es gibt Ausnahmen wie Extrazeit, aber das ist auch vertraglich geregelt, d.h. man muss sie schon vorher beantragen. Bei einem Orchester - und mit einem Opernhaus ist es noch viel schlimmer! - ist allein die Organisation sehr kompliziert. Man stolpert dauernd über diese Probleme! Deswegen arbeiten die Komponisten letztendlich lieber mit einer kleinen Gruppe. Und wenn sie einmal abenteuerlustig waren und ein Stück für Orchester geschrieben haben, das nicht befriedigend umgesetzt werden konnte, schreiben Sie das nächste Mal wieder für "normales" Orchester. Das ist viel physisch einfacher, von der Bühne mal ganz abgesehen! Das Schema können wir nicht ändern. Das ist das Gewicht der Institution.

Das haben wir beim Ensemble Modern Orchestra gerade nicht, sondern es wird ganz anders gehandhabt. Wo sind die Möglichkeiten des Orchesterapparats wenn man alle technischen Probleme wegdenkt?


Nun, als erstes muss sich etwas in der Flexibilität ändern. Aber wie viele Leute wollen gegen die normalen Arbeitsbedingungen anarbeiten wie ich es getan habe? Das wird erst kommen, wenn Genügend mit den jetzigen Bedingungen unzufrieden sind sagen: Ich dirigiere nur unter diesen oder jenen Umständen. Aber wie viele Dirigenten werden das wirklich wagen? Was glauben Sie? Wichtig ist in jedem Fall, immer zu sagen, dass man entschieden ist, etwas zu tun und die Verwaltung muss auch bereit sein, das vorzubereiten. In jedem Orchester gibt es heutzutage Leute, die sich fragen, wo das Orchester hingeht und wie wir weiter machen können. Ich sage dann immer: Flexibilität ist wirklich nötig.

Das heißt für die Komponisten, die sich dafür interessieren, das man in der Zukunft an der Variabilität des Orchesters forschen muss.

Ja, und noch etwas ganz Grundlegendes: Die Dauern der Partituren sind wichtig. Ich kann nicht für zehn Minuten einen riesigen Wirbel machen. Oder man sollte eine Drehbühne habe, wo man summ ein anderes Stück schon vorbereiten konnte.
Ein anderes Problem scheint aber auch zu sein, dass in den Nachwuchsorchestern nur klassisch-romantisches Repertoire gespielt wird und sobald ein modernes Stück ins Programm aufgenommen wird, wechseln die Stimmführer freiwillig ans letzte Pult.
Wirklich? Das kommt von der Erziehung. In der Musikschule wird zeitgenössische Musik im allgemeinen überhaupt nicht gepflegt. Es kommt bei Probespielen vor, dass es Geiger gibt, die Tschaikowsky und was weiß ich gespielt haben, aber sie geben zwei Zeilen Bartók: verloren! Nicht nur halbwegs, sondern total! Das ist nicht normal! Und man sieht auch, dass das Vom-Blatt-lesen nicht gepflegt wird. Sie spielen gut, was sie schon einstudiert haben, aber wie Marionetten.

In den Musikhochschulen wird zeitgenössische Musik auch nicht gepflegt! Was meinen Sie denn, was man dahingehend ändern könnte? In Frankreich wird da ja - besonders auch Dank Ihnen - sehr viel mehr getan. Was könnte man in Deutschland denn tun, das es ein bisschen aufwacht?


Das hängt immer ab von Persönlichkeiten. Solange keine Persönlichkeit ist, die dafür kämpft, ändert sich nichts.

In den 50ern gab es die goldene Zeit der Darmstädter Ferienkurse...


Ja, aber es gab nicht nur das, es gab den Rundfunk, und warum bin ich hier in Baden-Baden? Damals bin ich von Strobel engagiert worden! Strobel war wirklich ein Mann, der wollte etwas tun. Rosbaud als Dirigent auch. Und ich erinnere mich mit musica viva mit Hartmann in München. Veränderungen hängen immer von Personen, nicht von den Institutionen ab. Wenn jemand da ist, der schwach oder feige ist, passiert nichts. Übrigens ist die Konzerthausarchitektur heutzutage ein zusätzliches Problem. Es gibt sehr viele Säle, die zum 19. Jahrhundert gehören. Ein praktisches Beispiel: Wenn Sie sehr viel Schlagzeug haben, ist es viel einfacher, wenn der Saal schon dahingehend konzipiert wurde. Nehmen wir z.B. GRUPPEN von Stockhausen, wo es eben verschiedene Gruppen im Raum gibt und wofür fast alle Konzertsäle ungeeignet sind. Man müsste erst mit sehr vielen Schreinern arbeiten, aber das lohnt sich für eine Aufführung nicht. Die neue Architektur sollte variable Plätze haben, wo Publikum oder Musiker sein können. Solange diese notwendige Flexibilität nicht existiert, wird man ewig gegen äußere Umstände ankämpfen müssen.

Der neue Saal in Akiyoshidai von Arata Izosaki ist so konzipiert. Leider ist er nicht sehr groß. Das Publikum kann theoretisch überall sitzen und das Orchester oder Ensemble überall spielen.


Ja, das ist wie in der Cité de la Musique in Paris. Wir hatten Gott sei Dank einen Architekten, der sehr intelligent und musikalisch war. Wir haben gemeinsam diskutiert und ich habe ihm verschiedene Stücke präsentiert und gesagt: Das muss ich haben, das muss möglich sein, was können Sie dazu tun, um das schnell zu ändern, damit man nicht vierzehnTage mit zwanzig Stagehands braucht, was zuviel Geld kostet... Man muss praktische Lösungen finden. Ich habe so viele Konzerte gemacht, dass ich wusste, was wichtig ist und dies auch dem Architekten erklären konnte.
Mit der Cité de la Musique haben wir auch eine ziemlich gute Verbindung zwischen Conservatoire und Ensemble InterContemporain (EIC).

So etwas gibt es Deutschland nicht.


Wir machen z.B. alle zwei Jahre eine Sommerakademie und es kommen nicht nur Studenten vom Conservatoire, sondern von allen Musikschulen. Und auch während des Jahres haben wir verschiedene Projekte. Z.B. 1998 zum 70. Geburtstag von Stockhausen haben wir zusammen mit den Studenten GRUPPEN gemacht. Jedes Jahr organisieren wir ein großes Projekt. Es gibt an der Cité de la Musique zwischen 7-10 Professoren, die beim EIC sind oder waren, das bringt eine gewisse Orientierung und erleichtert die Sache sehr.

Noch eine andere Frage zu Ernest Bour, der vor kurzem gestorben ist und eine große Bedeutung für das EM hatte, welche Bedeutung hat er?


Beruflich war er fantastisch, sehr gut vorbereitet, akribisch sogar. Eine Anekdote: Ich sollte 1963 Wozzek dirigieren. Bour hat immer von Partituren gesprochen, also habe ich ihn getroffen, weil er mir immer gesagt hatte, dass es so viele Fehler in der Partitur gibt. Ich fragte ihn, ob er mir seine geben könne, damit ich sehe, was er korrigiert hatte? - Nein, nein, meine Partituren gebe ich nicht aus der Hand, aber geben Sie mir ihre. Vielleicht zwei Wochen später hat er mir meine Partitur zurück gegeben und hatte alles mit Bleistift korrigiert. ALLES, manchmal hat ein Punkt gefehlt, nun war er da! Eine so fantastisch korrigierte Partitur hatte ich noch nie gesehen und ich bin schon ziemlich penibel. Das war typisch für ihn, er war sehr hilfsbereit. Er hat mir einmal gesagt, er wäre besser als Lektor denn als Dirigent, und wirklich alle diese Partituren von Donaueschingen waren fehlerlos! Es war nicht richtig, dass er so in Vergessenheit geraten ist, er hat so viel hier bewegt. Strobel hat ihn sehr gerne gehabt und als Rosbaud gestorben war, hat er ihn sofort geholt. Liebermann hatte ihn mehrmals nach Hamburg eingeladen, leider hat es nie wirklich geklappt. Er war ein sehr ungewöhnlicher Mensch.

Ensemble Modern